Frankfurter Buchmesse 2022 

(c) Frankfurter Buchmesse
(c) Frankfurter Buchmesse

Endlich war es wieder so weit: Seit der Pandemie öffnete die Frankfurter Buchmesse als wichtigster internationaler Handelsplatz für Ideen rund um das Buch – und weit darüber hinaus – ihre Tore. Vom 19. bis zum 23. Oktober 2022 besuchten zahlreiche Gäste aus den unterschiedlichsten Bereichen das kulturelle Großereignis unter dem diesjährigen Motto »Translate. Transfer. Transform«. Das Publikum konnte sich durch Gespräche mit Verlagen, in Talk- und Diskussionsrunden sowie durch viele andere (auch digitale) Veranstaltungsformate und dem umfassenden Angebot der Verlagsbranche zu neuen Projekten und Kooperationen inspirieren lassen. Selbstverständlich war auch das Team des LZG von Beginn an mit großer Freude dabei, wovon wir Ihnen im Folgenden einen abwechslungsreichen Einblick bieten wollen. Wir wünschen Ihnen viel Spaß beim Stöbern!




Die Buchpreisverleihung am 17.10.2022 von Pauline Donschen

Kim de l'Horizon rasiert sich während der Dankesrede die Haare und widmet den gewonnen Buchpreis den Frauen im Iran.

Die Buchpreisverleihung am 17.10.2022

 

Am 17. Oktober 2022 beginnt um 18:00 Uhr die Verleihung des Deutschen Buchpreises als Auftakt der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Übertragen wird die Verleihung auf Youtube live aus dem Frankfurter Römer. Durch den Abend führt die Journalistin und Fernsehmoderatorin Cécile Schortman. Als erstes wird Dr. Ina Hartwig auf die Bühne gebeten, die im Namen des Dezernats für Kultur und Wissenschaft die Zuschauenden im Raum und vor den Bildschirmen begrüßt; sie heißt insbesondere auch die diesjährige Jury, die über die Vergabe des Preises entscheidet, willkommen.

 

Im Anschluss folgt eine Rede von Karin Schmidt-Friedrichs, Vorsteherin des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Sie betont in ihrer Rede einen der Schwerpunkte der diesjährigen Buchmesse, der sich um das komplexe Thema Übersetzen und Kommunikation dreht. Übersetzen, so Schmidt-Friedrich, sei nicht nur die Übertragung von einer in eine andere Sprache, sondern eben auch die zwischen Autor*innen und Leser*innen; die feinen Botschaften und Gedanken zwischen den Zeilen, die übersetzt werden. Außerdem dankt sie in ihrer Rede explizit dem deutschen Zentrum für barrierefreies Lesen, dank dessen Arbeit alle Titel der Long- und Shortlist nun auch für Blinde-, Seh- und Lesebehinderte Menschen barrierefrei zugänglich sind.

 

Im Anschluss bittet die Moderation Jury Mitglied Miriam Zeh auf die Bühne. Es ist ein sehr interessantes kurzes Interview über Herausforderungen, Chancen und Grenzen der Literaturkritik und über den Wandel der Digitalisierung innerhalb der Literaturrezeption. Und dann, denn darum geht es schließlich an diesem Abend, werden die einzelnen nominierten Titel der Shortlist in kurzen Videobeiträgen vorgestellt.

 

Die Shortlist des diesjährigen Buchpreises ist sowohl inhaltlich als auch stilistisch vielseitig. Aber die sechs Titel verbinden auch Gemeinsamkeiten, zentrale Themen, wie die Suche nach der eigenen Identität, soziale Fragen, Themen wie Diskriminierung, Trauer und Familie werden auf ästhetische Art und Weise zusammengeführt und bilden einen Spiegel der deutschen Gegenwartsliteratur.

 

Da ist einmal Dschinns von Fatma Aydemir, ein Roman, der weit über eine Familienchronik hinaus geht. Fragen nach Geschlecht und Herkunft werden genauso behandelt, wie das Leben als migrantische Familie im Deutschland der 1990er Jahre.

Kristine Bilkaus Nebenan bildet das Leben zweier auf den ersten Blick sehr unterschiedlicher Frauen ab, die beide aber die gleiche Frage umtreibt: Die nach Mutterschaft und gleichzeitiger Selbsterfüllung. Inmitten einer norddeutschen Provinz wird einfühlsam gleichermaßen von Entfremdung und dem Gefühl des Zu-Hause-Seins erzählt.

In Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher wird schonungslos und detailgenau die Ehe zwischen Elas Eltern geschildert, wobei ein Thema immer wieder zu Streit führt: Das Körpergewicht der Mutter. Erzählt wird aus der Sicht der zu Beginn neunjährigen Tochter, die schon früh in kindlicher Ernsthaftigkeit versteht, dass das äußere Erscheinungsbild einer Frau essenziell für ihr gesellschaftliches Ansehen ist. Das Buch lese sich wie eine eindringliche Liebeserklärung an die Mutter.

Dagegen erzählt Trottel von Jan Faktor die Geschichte eines Außenseiters, der in seinem Trauerprozess um seinen Sohn von Prag nach Berlin reist. Neben der Kunst, ein so ernstes Thema mit Witz zu verbinden, übt der Roman auch Gesellschaftskritik und verbindet persönliche mit europäischer Geschichte auf sehr wortgewandte Art und Weise.

In Blutbuch von Kim de l‘Horizon wendet sich die nicht-binäre Hauptfigur in einem Strudel aus schnellen Dialogen, Gedankenströmen und Briefen an die verstorbene »Großmeer«, die Großmutter. Es ist ein Text, der aufwühlt und auf jeden Fall in Erinnerung bleibt. Als letztes steht auf der Shortlist Spitzweg von Eckart Nickel. Es ist die Geschichte der Freundschaftstriade zwischen Carl, Kirsten und dem namenlosen Erzähler. Mit sprachlicher Präzision in teils längst vergangenen Worten wird der Frage nachgegangen, was Kunst eigentlich für das Leben bedeutet, was Kunst mit den Menschen verbindet.

 

Die Videoclips laufen nacheinander ab und schließlich betritt erneut Karin Schmidt-Friedrichs die Bühne, in der Hand den weißen Umschlag, der den Namen der Person enthält, die den Deutschen Buchpreis gewinnen wird. Kim de l‘Horizons Name schallt über die Lautsprecher, unter tosenden Applaus fällt Kim den Unterstützer*innen in die Arme. Und dann folgt die eindrückliche Dankesrede. In Kims »Meersprache« Schweizerdeutsch dankt l‘Horizon unter Tränen der Mutter und beginnt dann, improvisiert und ohne Begleitung, ein Lied zu singen: There‘s something inside you, it‘s hard to explain. Die Zeilen sind ein Versuch, den Menschen im Saal und vor den Bildschirmen queere Realitäten begreifbar zu machen; etwas, was für mich sehr eindrucksvoll und berührend war. Zum Abschluss der Rede holt Kim de l‘Horizon einen Rasierapparat heraus und fängt an, sich die Haare abzurasieren – als Zeichen der Solidarität mit den bis heute anhaltenden Protesten im Iran.

 

Kim de l‘Horizon wollte auf der Buchmesse den Moment der ungeteilten Aufmerksamkeit auf der Bühne für etwas Politisches nutzen. Während der Rede zur Verleihung des Buchpreises hätte man die berühmte Stecknadel im Raum fallen hören können, danach honorierte das Publikum l’Horizon mit lang anhaltenden Applaus. Es ist nicht nur großartig, dass der Preis erstmalig an eine nicht-binäre Person geht und damit für mehr queere Sichtbarkeit sorgt, sondern mit Blutbuch auch ein Text ausgezeichnet wurde, der die Frage nach Gender und Identität eindrucksvoll verhandelt.




© Frankfurter Buchmesse / Fernando Baptista
© Frankfurter Buchmesse / Fernando Baptista

Tag 1: 19.10.2022

Erster Tag der Frankfurter Buchmesse 2022

Das LZG ist auch in diesem Jahr für Sie vor Ort auf der Frankfurter Buchmesse. Gleich am ersten Tag bot sich uns ein umfangreiches und attraktives Programm mit vielen spannenden Veranstaltungen. Hier finden Sie einige Einblicke.




Endlich geht es los... von Tabea Färber-Schwert

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sebastian Stuertz zu Gast in der »30-Minuten-WG«

 

Kim de l'Horizon im Gespräch mit Cécile Schortmann

 

 

 

Barbara Vinken zu Gast auf dem Blauen Sofa

 

 

 

 

 

 

 

Abdul Chahin performt beim Poetry Slam Texte aus seinem Buch Die Locke und der Pott

… endlich wieder Frankfurter Buchmesse. Obwohl dies nicht mein erstes Mal auf der Frankfurter Buchmesse war, freute ich mich, dass ich dieses Jahr wieder in den Genuss kommen konnte, Literatur hautnah zu erleben.

 

Nach der Ankunft kurz vor 10 Uhr auf dem Messegelände konnte ich es kaum erwarten, meinen Streifzug durch die ersten Hallen zu beginnen. Mit insgesamt über viertausend Ständen und unzähligen Lesungen und Veranstaltungen war das Angebot überwältigend. Zum Glück hatte ich bereits am Tag zuvor das Programm studiert und mir einen kleinen Plan zusammengestellt, sodass ich mich erst einmal an diesem orientieren konnte.

 

Zunächst ging ich zum Stand der Penguin Random House Verlagsgruppe, an dem, in Kooperation mit der Zeitschrift STERN, Autor*innen zu Gesprächen und Lesungen in die »30-Minuten-WG« eingeladen wurden. Als einer der ersten Gäste war Sebastian Stuertz mit seinem neuen Roman Da wo sonst das Gehirn ist im Gespräch mit Catrin Boldebuck (STERN). Für Stuertz war es das erste Mal auf der Frankfurter Buchmesse, da sein Debütroman im Frühjahr 2020 erschienen war und der Messebesuch pandemiebedingt ausfiel. Mit kleinen Anekdoten skizzierte er das Feedback seiner Testleser*innen über die verwendete Jugendsprache im Roman und berichtete von Inspirationsquellen für die Peinlichkeiten, die die Hauptfigur im Roman erfährt. Neben diesen doch eher amüsanten Themen griff Stuertz aber auch ernstere auf, die er in seinem Roman verhandelt, etwa Mobbing in der Schule oder moderne Familienkonzepte wie Patchwork-Konstellationen. Er betonte, dass sein Roman zwar durchaus als Jugendbuch gelesen werden kann, doch gerade zum Ende hin sehr düster wird.

 

Nach einer kurzen Pause ging ich weiter über den Innenhof der Messe zur ARD-Bühne, vor der sich das Publikum bereits in freudiger Erwartung versammelte. Denn auf der Bühne folgte nun mein persönliches Highlight der Buchmesse: Buchpreisgewinner*in Kim de l’Horizon im Gespräch mit der deutschen Journalistin und Fernsehmoderatorin Cécile Schortmann. Zu Beginn äußerte sich de l’Horizon zur neuen Frisur: Im Zeichen der Solidarität mit den protestierenden Frauen im Iran, rasierte sich de l’Horizon während der Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Buchpreises teilweise die Haare. Die Frisur wurde danach nicht angepasst, was weiterhin Aufmerksamkeit auf die Situation im Iran lenkt. Blutbuch beschäftigt sich mit dem Erinnern und Nicht-Erinnern der nichtbinären Erzählfigur und wie diese sich auf die Suche nach der eigenen (Familien-)Geschichte macht. Kim de l'Horizon präsentierte sich sehr sympathisch, etwas überwältigt vom positiven Feedback, aber auch von den negativen Reaktionen aus dem Netz. Die Themen des Romans – Gender und Identität – treffen offenbar einen Nerv der Zeit und setzen de l’Horizons Werk auch auf meine Leseliste.

 

Thematisch blieb ich mit der nächsten Veranstaltung bei der Frage nach Identität und Gender. Mit ihrem neuen Buch Verkleiden nahm Barbara Vinken, Literaturwissenschaftlerin und Modetheoretikerin, Platz auf dem »Blauen Sofa«. Vinken greift in ihrem Buch die Frage auf, welche Rolle Mode in einer genderfluiden Welt spielt: Im Zentrum der Modeindustrie stehen die Geschlechterunterschiede, beziehungsweise was als männlich oder weiblich codiert wird. Die Passion, mit der Vinken über den Zusammenhang von Mode und Gender spricht, steckte auch mich an und zeigte mir neue Sichtweisen auf.

Danach begleitete ich die Mitarbeiterinnen des LZG zu einem der vielen Verlagsgespräche, die auf der Frankfurter Buchmesse geführt werden. Die Verlage stellen ihr kommendes Programm vor und gemeinsam wird nach Autor*innen und Büchern gesucht, die sich für Veranstaltungen in Gießen anbieten könnten. Mich hat es sehr gefreut, dass ich bei dem Gespräch mit einem meiner Lieblingsverlage, dem Diogenes Verlag, dabei sein und einen Blick »hinter die Kulissen« werfen konnte.

 

Die vorletzte Station meines ersten Tages auf der Buchmesse war der Hessische Gemeinschaftstand »Literatur in Hessen«, welcher vom Hessischen Literaturrat, dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst und dem Landesverband Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland im Börsenverein des Deutschen Buchhandels ausgerichtet wird. Ziel ist es, kleineren unabhängigen Verlagen aus Hessen und hessische Literaturinstitutionen auf der Frankfurter Buchmesse die Möglichkeit zu bieten, sich zu präsentieren. Am ersten Tag der Messe fand hier ein Empfang mit Ayse Asar, Staatssekretärin im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst statt. Vertreter der ausstellenden Verlage, Institutionen, Autor*innen und interessierte Besucher*innen konnten hier bei kleinen Verköstigungen Kontakte knüpfen und sich austauschen.

Zum Abschluss des Tages ging ich zum abendlichen Poetry Slam von ARTE auf der ARD-Bühne. Hier performte an diesem Abend Abdul Chahin Texte aus seinem Buch Die Locke und der Pott und begeisterte sein kleines Publikum.

 

Insgesamt hatte ich einen ereignisreichen ersten Tag, mit vielen verschiedenen kleinen und großen Highlights. Die Größe der Messe und der Hallen hat mich auch dieses Jahr wieder sehr beeindruckt. Mit müden Beinen und voller neuer Eindrücke machte ich mich auf den Weg nach Hause und fieberte schon dem nächsten Tag entgegen.


Buntes Kinder- und Jugendprogramm von Charlotte Knauth

 

 

 

 

 

 

Autor Tobias Krejtschi arbeitet in seinen Kinderbüchern schwierige Themen auf

 

 

 

 

 

 

 

Bisher war ich erst ein Mal auf der Frankfurter Buchmesse, doch die Masse der Besucher*innen war damals so gewaltig, dass ich die Veranstaltungen kaum verfolgen konnte und bereits nach wenigen Stunden so erschöpft war, dass ich am liebsten gleich wieder nach Hause wollte.

 

Doch dieses Mal durfte ich die Buchmesse für das LZG im Rahmen der Fachbesuchertage erkunden und wollte darum so viel wie möglich vom Programm wahrnehmen. Gleich die erste Veranstaltung, die ich besuchte, war von größter Aktualität und zeigte die Relevanz von Literatur auf: »Wo waren Sie am 24. Februar? Morgens in der Früh? Wie fühlten Sie sich, als der Krieg angefangen hat? Wie fühlen Sie sich jetzt, denn der Krieg ist noch nicht vorbei?«, fragte die Moderatorin Dagmar Becker-Göthel (arsEdition). Sie erzählte, wie es ihr an dem Morgen erging und welche schwierige Frage sich ihr stellte: Wie erklären wir das den Kindern? Im Publikum wurde zustimmend genickt, denn wie soll man etwas so Unbegreifliches begreiflich machen? Der arsEdition-Verlag wandte sich an Tobias Krejtschi, der mehrfach ausgezeichnete Autor und Illustrator hat in seinen Werken schon häufiger schwierige Themen wie Depression, Trauer und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit behandelt. Angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine schuf er das bebilderte Kinderbuch Manchmal ist da einer. Die Geschichte erzählt von blauen und orangefarbenen, von eckigen und runden Wesen, die Unterdrückung und Gewalt erfahren, ehe sie schlussendlich wieder zum Frieden finden. Autor Krejtschi betont: »Für Frieden brauchen wir […] Vertrauen, deshalb müssen wir miteinander reden. Verstehen und verstanden werden verbindet uns.« Um zu vermeiden, dass Krieg oder Gewalt etwa mit bestimmten Regionen, Konflikten oder Menschengruppen in Verbindung gebracht werden, ist der Inhalt allgemein gehalten und bietet dadurch eine große Projektionsfläche, die vielfältig interpretiert werden kann.

Mit diesem Bilderbuch zieht Krejtschi durchs Land und besucht Schulklassen. Er berichtet von sehr aufmerksamen und sensiblen Kindern, die zwar Ängste haben, aber deutlich die Wichtigkeit der Situation begreifen und sie darum verstehen wollen. Die Kinder brauchen eine Erklärung, denn die Geschehnisse sind längst auch in ihrem Alltag angekommen; sie treffen zum Beispiel im Kindergarten jetzt auch auf ukrainische Kinder, so Krejtschi. Doch das Buch soll auch verdeutlichen, dass es nicht immer einfache Lösungen gibt. Krejtschi zeigte Illustrationen des Werks und berichtete vom Entstehungs- und Schaffensprozess, ehe er einige Fragen aus dem Publikum beantwortete.

 

Im Gespräch mit Krejtschi wurde deutlich, dass politisch relevante Themen wie Krieg und Diversität auch für Kinder und Jugendliche bzw. in Kinder- und Jugendbüchern aufgearbeitet werden können und sollten. Um genau so einen Versuch ging es im Rahmen der nächsten Veranstaltung »Wie machen wir Kinder zu (kleinen) Lesehelden?« Michael Schlienz (Klett-Verlag), Bärbel Dorweiler (Thienemann-Esslinger-Verlag) sowie die Pädagogin und Schulleiterin Theresa Weber setzten sich mit der ZEIT-Moderatorin Katrin Hörnlein zusammen, um ihre gemeinsame Erstleser-Buchreihe »Kleine Lesehelden« vorzustellen. Das Gespräch begann mit einem schockierenden Fakt: Die Studie zeigte, dass es 23% schwache bis sehr schwache Leser*innen unter den Kindern der vierten Klasse gibt. Obwohl die Zahlen bereits vor Corona schlecht waren, hat die Pandemie die Klassen im Schnitt um ein halbes Jahr zurückgeworfen.  Zuallererst ist Lesen für Kinder deswegen besonders anstrengend, weil es mehr ist, als bloß Silben sagen. »Lesen ist verstehen«, betonte Theresa Weber. Hinzu kommt, dass für alle Kinder passende Methoden gefunden werden müssen, ehe auch alle Kinder entsprechend differenzierte Aufgaben bekommen können. »Es ist unglaublich schwierig, diese Kinder zu fördern«. Außerdem herrscht ein schwerwiegender Lehrer*innenmangel in Deutschland, für Webers Klasse mit 24 Kindern bräuchte sie im Idealfall sieben weitere Fachkräfte. Die Reaktion der Lehrbuch-Verlage auf die Defizite der Schüler*innen sei die Optimierung der Konzepte und Ausdifferenzierung der Materialien, doch diese sollen natürlich auch nicht unendlich umfangreich werden, so Michael Schlienz. Genau hier beabsichtigt die Lesehelden-Reihe anzusetzen, bei der es sich um ein Kooperationsprojekt zwischen dem Klett und Thienemann-Esslinger Verlag handelt. Die Werke erzählen klassische Geschichten der deutschen Literatur gekürzt und vereinfacht nach. 

 

Auch die dritte Veranstaltung, die ich besuchte, beschäftigte sich mit einem Thema, das für Kinder und Jugendliche relevant ist: »Queere Protagonist*innen in der Jugendliteratur«. Und die Jugend ist interessiert. Gerade als die Besucher*innen der letzten Veranstaltung ihre Plätze verließen, strömten Jugendliche und junge Erwachsene heran und belegten alle Stühle, Sitzkissen und sogar den Boden vor dem Podium, um den beiden Autorinnen zu lauschen, die selbst noch recht jung sind. Marie Graßhoffs Buch Summerstorm erzählt die Geschichte von zwei Mädchen, die sich in der Welt mit Superkräften zurechtfinden müssen. Das Werk In unserem Universum sind wir unendlich von Sarah Sprinz handelt von zwei Jungen, die sich im Krankenhaus kennenlernen – und die eine tragisch-schöne Liebesgeschichte miteinander verbinden wird. Die Autorinnen erzählen von ihrem Schaffensprozess: Für Sarah Sprinz war es zunächst ein sehr persönliches Buch, für das sie mehr als drei Jahre benötigte. Eigentlich verfasste sie die Geschichte nur für sich, erst als das Manuskript von einem Verlag angenommen wurde, begriff sie: »Oh, jetzt muss ich das ja auch zu Ende schreiben«. Es ist ihr erstes Buch mit queeren Protagonisten. Dies war allerdings keine bewusste Entscheidung, vielmehr habe es sich einfach von Anfang an richtig angefühlt. Sprinz kann nachvollziehen, dass manche es als kontrovers empfinden, dass sie als heterosexuelle Frau über die Gefühle und Erlebnisse homosexueller Männer bzw. Jungen schreibt. Doch sie habe das Gefühl, Realitäten auszugrenzen, wenn sie immer nur ihre eigene schildere. Außerdem arbeitete sie während des Projekts sehr intensiv mit ‚sensitivity readers‘ zusammen, also Personen, die die Manuskripte auf schädliche und verletzende Darstellungen von marginalisierten Gruppen hin prüfen. Für Marie Graßhoff war es nicht die erste Geschichte mit queeren Charakteren: Zuerst habe sie gleichgeschlechtliche Beziehungen nur angedeutet, da sie sich noch nicht so recht getraut habe, sie detaillierter auszuführen. Doch als sie den Mut fasste und von einer Beziehung zwischen zwei Frauen schrieb, war es für sie »so befreiend, als hätte [sie] das schon immer so schreiben sollen«. Marie ist selbst queer und hätte sich als Jugendliche mehr queere Protagonist*innen und homosexuelle Beziehungen in Büchern gewünscht, da sie dann gewusst hätte, dass „das […] voll normal« ist und es viele Menschen gibt, denen es geht wie ihr.

Die abschließende Frage, welche Superkräfte sie selbst gerne hätten, beantworteten beide Autorinnen gleich: Die Fähigkeit, die Zeit anzuhalten, um zwischendurch auch mal ein Nickerchen zu machen. Das Publikum lachte, jubelte und es wurden Worte der Zustimmung dazwischengerufen.




© Frankfurter Buchmesse / Anett Weirauch
© Frankfurter Buchmesse / Anett Weirauch

Tag 2: 20.10.2022

Zweiter Tag der Frankfurter Buchmesse

Auch der zweite Buchmessetag hielt für uns viele neue Eindrücke und interessante Programmpunkte bereit.
Wir berichten für Sie über einige unserer Highlights... 




Politisch und international von Tabea Färber-Schwert

 

 

 

Pierrot Raschdorff zu Gast in der »30-Minuten-WG«

 

 

Julia Wolf liest aus ihrem preisgekrönten Roman Alte Mädchen

 

Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani spricht mit Ruthard Stäblein über ihren Roman Schaut, wie wir tanzen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Eine beeindruckende Ausstellung des diesjährigen Gastlandes Spanien

Mit neuer Energie, voller Vorfreude und Erwartung startete ich in meinen zweiten Tag auf der Frankfurter Buchmesse. Im Zug nach Frankfurt passte ich noch einmal meinen Tagesplan an und freute mich auf Stunden voller Literatur und Kultur.

 

Genau wie am Tag zuvor legte ich meinen ersten Stopp bei der »30-Minuten-WG« ein. Zusammen mit der Moderatorin Catrin Boldebuck sprach hier Diversity-Experte Pierrot Raschdorff über sein neues Buch Schwarz. Rot. Wir. Wie Vielfalt uns reicher macht. An aktuellen und verständlichen Beispielen stellt Raschdorff dar, wo Diskriminierung und Rassismus stattfinden, inwiefern Begriffe (z.B. Migrationshintergrund) heutzutage negativ konnotiert werden und welche Problematik Diversity für Unternehmen darstellen kann. Für mich war das Gespräch unheimlich spannend, da es für mich Diversity beziehungsweise Vielfalt noch einmal in neue Kontexte setzte und mir aufzeigte, wieviel Arbeit hier noch notwendig ist.

 

Danach zog es mich wieder in Richtung des Hessischen Gemeinschaftstandes, an dem die wiederholt prämierte Autorin Julia Wolf ihren im September erschienen Roman Alte Mädchen vorstellte. Das Buchprojekt erhielt den Robert-Gernhardt-Preis 2018 und wurde jüngst mit dem erstmals verliehenen Licher Literaturpreis ausgezeichnet. In dem Roman setzt sich Wolf mit der NS-Vergangenheit einer Familie auseinander, in dem sie drei Frauengenerationen porträtiert. Wie viel der Autorin an den Geschichten der Frauen im Roman liegt, die unter anderem auch von ihrem eigenen familiären Hintergrund inspiriert wurden, spürte man sofort, wenn sie von ihren ausführlichen Recherchen berichtet. So habe sie viel zu der Flucht aus Ostpreußen und über das Leben der Frauen in der Nachkriegszeit gelesen. Zusätzlich hospitierte Wolf zwei Tage in einer Seniorenresidenz und unterhielt sich mit vielen Frauen aus dieser Generation. Mich beeindruckte es, wie viel Zeit und Herzblut die Autorin in dieses Projekt gesteckt hat, denn man konnte ihr anmerken, mit wie viel Leidenschaft sie über Alte Mädchen sprach.

 

Einen kurzen Exkurs in die Internationale Literatur gab es für mich im Rahmen der nächsten Veranstaltung. Die Frankfurter Buchmesse zeichnet sich natürlich nicht nur durch die Präsentation zahlreicher deutschsprachiger Verlage aus, sondern besticht auch durch die Vorstellung internationaler Literatur und Autor*innen. Die Buchmesse stand dieses Jahr unter dem Motto »Translate. Transfer. Transform.«, daher war es für mich besonders erfrischend, das Gespräch mit Leïla Slimani über ihren neuen Roman Schaut, wie wir tanzen zu verfolgen. Im Mittelpunkt ihres Romans steht die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte und die Frage nach der eigenen Identität. Es war ein sehr interessantes Gespräch über Familie, Marokko und das (fehlende) Heimats- oder Zugehörigkeitsgefühl der Autorin.

 

Etwas später, wieder zurück in den Hallen der deutschsprachigen Literatur, nahm als Gast auf dem »Blauen Sofa« Melanie Raabe Platz und stellte ihren neuen Roman Die Kunst des Verschwindens vor. Da ich die Autorin nicht kannte, war ich gleich am Anfang überrascht zu hören, dass ihre Bücher bereits in 22 Sprachen übersetzt wurden und mehrere Verfilmungen in Planung sind. Mit dem Inhalt ihres neuen Werks hatte sie auch mein Interesse geweckt. In Die Kunst des Verschwindens erforscht Raabe unter anderem eine übernatürliche Verbindung zweier komplett fremder Frauen. Besonders das »magisch-realistische Element«, wie es Raabe nannte, faszinierte mich während der Lesung und machte mir Lust auf mehr. Da es die letzte Lesung war, die ich auf der Buchmesse besuchte, freute ich mich, noch eine weitere spannende Autorin kennengelernt zu haben.

 

Selbstverständlich wollte ich es mir nicht entgehen lassen, einen Blick auf die Ausstellung des Gastlandes Spanien unter dem Motto »Sprühende Kreativität« zu werfen und ging daher noch zum Ehrengast-Pavillon. Ich bereute am Ende etwas, die Ausstellung nicht schon früher besucht zu haben. Von der Decke herunterhängende, mit spanischen Texten bedruckte Stoffreihen bildeten Abgrenzungen beziehungsweise kleine Räume für Lesungen und Gespräche, während Lichtinstallationen Wörter und Textfragmente an die Wand warfen oder sich in bunte Farbwelten verwandelten. Die Ausstellung gefiel mir unheimlich gut und ich hätte dort Stunden verbringen können. 

 

Mit vielen Erlebnissen, Informationen und Buchempfehlungen fuhr ich glücklich, aber auch etwas erschöpft nach Hause. Den Termin für die Buchmesse im kommenden Jahr markierte ich mir noch im Zug in meinem Kalender. Bis nächstes Jahr, Frankfurter Buchmesse!


Von Emily Brontë bis zu True-Crime Stories: Vielfalt der Frankfurter Buchmesse von Charlotte Knauth

Mithu Sanyal im Gespräch über ihr neues Buch Über Emily Brontë

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

True Crime Time mit Laura Regenauer und Sarah Fischer

 

 

 

Ausstellung des Gastlandes Spanien

Mein zweiter Tag auf der Frankfurter Buchmesse begann mit beeindruckenden Frauen: Mithu Sanyal sprach im N99-Podcast über Emily Brontës Sturmhöhe. Und gleich zu Beginn des Gesprächs merkte man Mithu Sanyal die pure Begeisterung für den postmodernen Roman aus dem 19. Jahrhundert an. Sie war gar nicht zu bremsen, erzählte unter anderem, dass sie bei jedem Lesen neue Aspekte entdeckt und immer wieder glaubt, die Geschichte könne doch einen anderen Verlauf nehmen. Sie berichtete von all den verschiedenen Übersetzungen und Kunstwerken, die sie angesammelt hat, und von den Filmen, die immerzu nur die erste, aber nie die zweite Hälfte von Sturmhöhe darstellen. Kaum verwunderlich ist deshalb, dass für Mithu Sanyal das Schreiben ihres eigenen Buches Über Emily Brontë »wie Therapie« war. Hier arbeitet sie Brontës Biografie und ihr Werk auf und beschäftigt sich mit dem Humor, den Flüchen und den sozialen Strukturen in Sturmhöhe: »Es geht um Liebe, aber auch um mehr als Liebe. Es geht um die Frage: Wer darf geliebt werden? Wer hat ein Recht darauf, wen zu lieben?« Das Gespräch endete mit einem spannenden Ausblick: Nach ihrer eingehenden Recherche ist Sanyal sicher, dass das verschollene zweite Manuskript von Emily Brontë wieder auftauchen wird.

 

Im Anschluss haben die beiden Autor*innen Greta von Richthofen und Rojer Féghali am Gemeinschaftsstand des Hessischen Literaturrats mit Daniel Schneider über ihre Graphic Novels gesprochen. Beide sind Stipendiat*innen einer Kooperation zwischen Deutschland und Frankreich, beide Werke beschäftigen sich mit der französischen Region Bordeaux. Greta von Richthofens Graphic Novel erzählt die wahre Geschichte von Heinz Stahlschmidt, der 1944 ein deutsches Munitionslager sprengte und so die Zerstörung des Hafens von Bordeaux verhinderte. Die Geschichte ist absichtlich zweisprachig verfasst, auf Deutsch und Französisch, da sie zwar in Frankreich spielt, aber der Protagonist Deutscher ist. Mehrere Interviews zeigen außerdem, wie Heinz Stahlschmidt selbst fließend zwischen Französisch und Deutsch wechselte.

Rojer Féghali beschäftigt sich in seinen Werken mit seiner Migration aus dem Libanon nach Frankreich, wo er zunächst einen großen Kulturschock erlitt, weil er die Europäer*innen als sehr distanziert empfand. Seine Gefühle, die er mit dieser aufregenden Zeit verbindet, spiegeln sich auch in seiner Kunst wider: Jene Werke, die nach seiner Migration entstanden, sind vornehmlich graue Tuschezeichnungen – sie sind ein Zeichen seiner Einsamkeit. Außerdem erstellte Rojer Féghali Collagen aus diversen Zetteln, die er auf seiner Reise sammelte – die kleinen Ticktes und Schnipsel, die sonst im Müll landen, werden in seiner Kunst wieder zusammengefügt, wie auch seine Identität aus vielen Stücken wieder zusammengefügt ist. Alles zusammenzukleben, das sei wie ein Heilungsprozess, so Féghali.

 

Danach besuchte ich eine besonders spannende Veranstaltung mit Laura Regenauer und Sarah Fischer. Das Duo des bekannten True Crime Podcasts »Eyes in the Dark« stellte seinen neuen Escape-Room-Roman True Crime 2 vor: Darin durchsucht die Protagonistin Karina in den wenigen Stunden, die ihr Ehemann Gustav auf der Arbeit ist, sein Büro, nur um die Aufzeichnungen vieler Verbrechen zu finden. Was es damit genau auf sich hat, muss sie herausfinden, ehe er heimkehrt. Der Inhalt beruht auf einer wahren Geschichte, die sich in Heidelberg abgespielt hat. Wie die Rätsel aussehen, mit denen Karina konfrontiert wird, veranschaulichten Laura Regenauer und Sarah Fischer durch ausgewählte Lesepassagen. Die Gäste waren dazu eingeladen, interaktiv am Handy mitzuraten, die Ergebnisse wurden live in einer Präsentation gezeigt.

 

Zum Abschluss besuchte ich noch die Halle des Gastlandes Spanien und war tief beeindruckt von dem wunderschönen, sogar magischen Ambiente. Bewegend und erschöpft ging mein zweiter Tag auf der Frankfurter Buchmesse zu Ende.




© Frankfurter Buchmesse / Peter Hirth
© Frankfurter Buchmesse / Peter Hirth

Tag 3: 21.10.2022

Dritter Tag der Frankfurter Buchmesse

Auch am Freitag, dem ersten Besuchertag auf der Messe, waren wir wieder bei zahlreichen Veranstaltungen in den Frankfurter Hallen. Von den vielfältigen Erlebnissen und Eindrücken berichten wir hier...
 




Bewegende Momente von Anastasia Berg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Daniela Dröscher spricht auf dem Blauen Sofa über ihren für den Buchpreis nominierten Roman Lügen über meine Mutter

 

Viktor Funk liest aus seinem Roman Wir verstehen nicht, was geschieht

 

 

 

 

 

 

 

Serhij Zhadan, Gewinner des diesjährigen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, im Interview über sein neues Buch Himmel über Charkiv

 

 

 

Habe ich an alles gedacht? Schirm, Ticket, Maske, Geldbeutel? Was brauche ich heute? Die letzte Buchmesse liegt für mich bereits einige Jahre zurück und die pandemiebedingte Pause im Veranstaltungsbetrieb macht es mir nicht leichter, schnell an alles Notwendige zu denken. Doch ich muss los, der Zug wartet bekanntlich nicht. 

Je näher wir dem Messegelände kommen, desto aufgeregter werde ich. Was wird mich heute erwarten? Erst einmal einen Überblick verschaffen und die verschiedenen Stände auf sich wirken lassen. Unsere Tour starten wir in Halle 3.0, wo sich ein Teil der deutschsprachigen Verlage präsentiert. Und was soll ich sagen, die ganzen Eindrücke überrollen mich. Die Vielfalt an Literatur, die Aufmachung der Stände, die Menschen. Und wir alle haben ein gemeinsames Ziel: Neuheiten finden, die nicht nur unser Bücherregal zieren, sondern eben auch für das jeweilige Publikum bzw. Leser*innen von Interesse sein können. 

Durch die Buchmesse-App habe ich erfahren, dass Daniela Dröscher auf dem »Blauen Sofa« Platz nimmt und über ihren neuen Roman Lügen über meine Mutter spricht. Da muss ich hin. Im Gespräch über ihr Werk verschweigt sie ganz bewusst, was an der Geschichte wahr und was fiktiv ist. Kennt ihr den Begriff »Trophywife«? Ich kannte ihn bislang nicht. Dabei handelt es sich um einen oft auch abwertend gebrauchten Begriff für eine in der Regel junge, attraktive Frau, die einen älteren, erfolgreichen Mann hat. In Daniela Dröschers Roman ist es genau andersherum: Der Vater der Protagonistin hat wenig beruflichen Erfolg und das liegt in seinen Augen daran, dass seine Frau dick sei.

 

Nach der Lesung schließe ich mich den Volontärinnen des LZG an und begleite sie zu einem Verlagsgespräch. Das ist etwas ganz Neues für mich. Ich erhasche einen Einblick in das kommende Frühjahrsprogramm. Welchem Literaturfan würde das nicht gefallen?

Ein Blick auf die Uhr verrät, dass mir jegliches Zeitgefühl abhandengekommen ist. Es gibt so viel zu sehen und doch nicht genug Zeit. Schnell eile ich daher zur Lesung mit Viktor Funk und seinem neuen Roman Wir verstehen nicht, was geschieht. Diese findet auf der Bühne der Leseinsel der unabhängigen Verlage statt. Der Roman widmet sich den Überlebenden der Gulags und ist ein fiktionaler Roman, der jedoch auf realen Fakten basiert. Viktor Funk hat mit zahlreichen Überlebenden gesprochen und viel über ihr Schicksal sowie darüber erfahren können, wie es möglich ist, mit den traumatischen Erfahrungen weiterzuleben.

 

Viel Programm in kurzer Zeit liegt jetzt schon hinter mir, ich muss den Kopf frei bekommen. Deswegen lasse ich mich einfach mit der Menge durch die Ausstellungshalle treiben. Die Menschenanzahl nimmt stetig zu, und auch die Eindrücke und Reize prasseln immer mehr auf mich ein. Jeder Stand scheint schöner und aufwendiger gestaltet als der nächste.

 

Der Tag neigt sich langsam dem Ende zu und auch mit der Kraft und meiner Aufnahmefähigkeit sieht es nicht mehr allzu gut aus. Aber das Gespräch mit dem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels 2022 Serhij Zhadan will ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Zu diesem Gespräch finden sich sehr viele Menschen vor dem »Blauen Sofa« ein. Die Stimmung ist verändert, ernst. Kein Wunder, Serhij Zhadan kommt aus Charkiw, einer Stadt in der Ukraine, die nah an der Grenze zu Russland liegt. Er beschreibt, wie es zu seinem Buch Himmel über Charkiw gekommen ist. Es handelt sich um eine Art öffentliches Tagebuch, das er immer noch führt und mit dem er den Menschen Mut machen will. Aber nicht nur das, er will damit auch die Erlebnisse festhalten, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Im Publikum ist nichts zu hören. Es kommt mir nicht real vor. Wir sind hier, laufen auf der Buchmesse umher und lassen uns inspirieren – und gleichzeitig wütet in einem anderen Land ein Krieg. Serhij Zhadan erklärt aber auch, wie wichtig es ist, dass man versucht, das friedliche Leben zurückzuholen und sei es nur für eine Stunde. 

 

Damit endet für mich ein ereignisreicher erster Tag. Mit vielen Eindrücken und Gedanken verlasse ich müde, aber glücklich das Messegelände. 




© Frankfurter Buchmesse / Peter Hirth
© Frankfurter Buchmesse / Peter Hirth

Tag 4: 22.10.2022

Vierter Tag der Frankfurter Buchmesse 

Mit dem vierten Messetag endet für uns die diesjährige Frankfurter Buchmesse, die unter dem Motto »Translate. Transfer. Transform.« stattfand. Die Highlights von unserem letzten Tag des Buchevents finden Sie hier. Viel Spaß beim Lesen!




WHO THE FCK IS FTZK?! von Anastasia Berg

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Große Magie beim Carlsen Verlag

 

 

Michael Kibler liest aus seinem Krimi Stiller Hass

 

 

Sebastian Fitzeks vielfach ausgezeichnete Krimis zieren den Stand des Droemer Knaur Verlags und locken zahlreiche Besucher*innen an
 

Was mache ich hier eigentlich? Es ist Samstag, 7:10 Uhr, komplett dunkel – und da stehe ich und warte auf den RE30, um meinen zweiten Tag auf der Frankfurter Buchmesse zu bestreiten. Aber Heute ist ein besonderer Tag, auf den ich mich schon seit Wochen freue, doch dazu später mehr. 

Ich sitze im Zug, schaue mich um und was sehe ich da? Menschen, die über ihren Smartphones brüten und durch die Buchmesse-App scrollen! Also bin ich nicht die Einzige, die sich auf dem Weg zur Messe befindet. Mein Plan für heute? Weiter die zahlreichen Stände der Verlage erkunden. Nachdem der gestrige Tag stark von Gesprächen und Veranstaltungen geprägt war, wollte ich heute alles langsamer angehen lassen und mir die Zeit nehmen, die aufwendig gestalteten Messestände mit ihren Angeboten zu erobern.

Bei der Ankunft auf dem Messegelände wurde mir klar, heute wird es brechend voll. Es ist noch nicht einmal zehn Uhr und die Menschentraube am Eingang ist enorm. Und was machen wir? Gehen einfach an ihnen vorbei! Wie ein VIP habe ich mich gefühlt. Kein Anstehen. Stattdessen habe ich die Blicke der anderen gespürt, die sich bestimmt, so wie ich damals, gefragt haben, was für einem Job die Glücklichen nachgehen, die da einfach an einem vorbeilaufen…

 

Der Tag beginnt für mich am Stand des Carlsen Verlags, wo ich erneut an einem Verlagsgespräch mit den Volontärinnen teilnehmen durfte. Und was soll ich sagen: Für mich einer der drei schönsten Stände auf der Buchmesse. So viele Farben, so viele Kinder- und Jugendbücher. Ich war überwältigt. Mein persönliches Highlight am Stand war die meterhohe Harry Potter-Wand. 

 

Die nächsten Stunden verbringe ich damit, die Ausstellung der deutschsprachigen Verlage zu erkunden. Ich stöbere in zahlreichen Büchern, schlendere durch die Gänge, stehe minutenlang staunend vor den Verlagsständen und frage mich, wie viel Zeit wohl für den Aufbau draufging.

 

In der Veranstaltungstabelle habe ich gesehen, dass Michael Kibler seinen neuen Krimi Stiller Hass am Stand der Frankfurter Rundschau vorstellt. Ich hatte das Glück, mit ihm sogar einige Worte über die im November bevorstehende Veranstaltung bei uns im LZG wechseln zu können. Leider kann ich der Lesung heute nicht bis zum Ende folgen, weil ich zu DER Veranstaltung will, auf die ich mich bereits seit Wochen freue: Das Podcast-Gespräch mit Sebastian Fitzek! Also schnell los und auf direktem Weg zum vielfach ausgezeichneten Krimiautor, um noch einen guten Platz zu bekommen. Doch ich stolpere in eine Menschenansammlung, wo es zunächst anscheinend kein Durchkommen gibt. Ich nähere mich von verschieden Seiten und tatsächlich gelingt es mir, noch einen Platz in der ersten Reihe zu ergattern und so unmittelbare Sicht auf meinen Lieblingsautor zu haben. Im Gespräch geht es um seinen neuen Thriller Mimik, der demnächst erscheint. Die Handlung dreht sich um Hannah Herbst, Deutschlands erfahrenste Mimikresonanz-Expertin, die einen Menschen »lesen« kann, indem sie auf die kleinsten Signale des menschlichen Körpers achtet. So konnte sie der Polizei bereits bei der Lösung von etlichen Verbrechen beratend zur Seite stehen. Nach der Veranstaltung habe ich die großartige Möglichkeit, Fitzek am Droemer Knaur Stand zu treffen und mir mein Buch von ihm signieren zu lassen. Mein persönliches Highlight des Buchmesse-Tages!

 

Nach einer kurzen Pause vor der ARD Bühne, wo ich einige Zeit dem Gespräch zwischen Tupoka Ogette und Hadija Haruna-Oelker über Ogettes neues Buch Und jetzt du lausche, gehe ich in die Ausstellung des diesjährigen Gastlandes Spanien und erkunde das literarische Angebot.

 

Damit neigt sich auch mein zweiter Buchmessetag dem Ende zu. Ich bin wunschlos glücklich und froh, dass ich an der diesjährigen Messe teilnehmen konnte. Aber ein kleines Abschlusshighlight hält der Tag dann doch noch für mich bereit: Auf dem Weg zum Zug begegnet mir eine Frau, auf deren T-Shirt steht »WHO THE FCK IS FTZK« steht und das man auf der offiziellen Fanseite des Autors erwerben kann. In guter Gesellschaft trete ich also den Heimweg an. Bis zum nächsten Jahr!


Spannende Einblicke von Pauline Donschen

 

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Josephine Apraku zu Gast auf dem Blauen Sofa

 

 

Wertvolle Einblicke: Tupoka Ogette über rassismuskritisches Leben

 

 

Mein letzter Tag auf der Buchmesse startete mit dem Verlagsgespräch beim Carlsen Verlag, an dem ich, zusammen mit einer weiteren Praktikantin und den beiden Volontärinnen des LZG, teilnehmen durfte. Viele Comics, Cartoons und Graphic Novels für Kinder und Jugendliche schmückten den Gesprächstisch. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir von Hanna Harms Milch ohne Honig, in dem es, untermalt von wunderschönen Zeichnungen, um das Bienensterben geht. Es erscheint als tolle Möglichkeit, gerade Kindern Themen wie Umwelt und Klima näher zu bringen.

Im Anschluss habe ich mich durch die Hallen der deutschsprachigen Verlage treiben lassen. Da an diesem Tag viele Verlagsstände Bücher zum Verkauf angeboten haben, war es sehr voll und ich kam nur langsam voran. Ein Highlight war auf jeden Fall ein erstandenes Rezensionsexemplar von Nino Haratischwilis Das mangelnde Licht. Das Buch erschien 2022 bei der Frankfurter Verlagsanstalt und steht schon lange auf meiner Leseliste. Ich freue mich sehr auf die Lektüre – und noch mehr darauf, es für das LZG zu rezensieren!

 

Die erste Veranstaltung, die ich mir ansah, war eine Lesung von Afrikawissenschaftlerin und Kolumnistin Josephine Apraku, die ihr neues Buch Kluft und Liebe: Warum soziale Ungleichheit uns in Liebesbeziehungen trennt und wie wir zueinanderfinden vorstellte. In dem Buch und auch auf der Bühne plädiert sie dafür, dass das gängige Verständnis von Liebe und Romantik intersektional gedacht werden müsse, dass es wichtig sei, in Beziehungen aller Art über Ungleichheiten und Gemeinsamkeiten, Privilegien und Diskriminierungen zu sprechen. Es war ein spannendes Gespräch und ich war sehr beeindruckt davon, wie logisch und einleuchtend Josephine Apraku komplexe Zusammenhänge erklärt.


Thematisch nicht weit von Apraku entfernt, ging es mit Tupoka Ogette auf der ARD Bühne weiter. Von ihr sind in diesem Jahr zwei Bücher erschienen: Und jetzt du. Rassismuskritisch leben sowie Ein rassismuskritisches Alphabet. Ogette hostet außerdem noch einen Podcast, in dem sie mit anderen schwarzen Frauen spricht, und bietet Workshops zum Thema Antirassismus an. Auf der ARD Bühne spricht sie über ihre Arbeit, ihre Bücher und darüber, was ihr der Austausch mit anderen PoCs bedeutet. Besonders eindrucksvoll war für mich, als die Moderatorin die Debatte um rechte Verlage auf der Buchmesse ansprach, die im letzten Jahr die Nachrichten um rund um das Literaturevent beherrschte. Tupoka Ogette und auch Moderatorin Hadija Haruna-Oelker verurteilten beide die Präsenz rechtsideologischer Verlage vehement und forderten Statements von den Verantwortlichen der Buchmesse. Das Publikum antwortete mit Applaus – auch ein Zeichen dafür, dass die Diskussion offenbar noch nicht zu Ende geführt ist. 
 

Anschließend hörte ich mir noch ein Gespräch mit der Sängerin, Podcasterin und Autorin Judith Holofernes an, die als Songschreiberin und Frontfrau der Band »Wir sind Helden« berühmt wurde. Sie erzählte vom Schreibprozess ihres aktuellen Buches Die Träume anderer Leute, in dem sie unter anderem die Zeit mit ihrer damaligen Band reflektiert und den Kampf um ihre kreative und künstlerische Selbstbestimmung beleuchtet.

 

Insgesamt war dieser Buchmessentag für mich eine große Bereicherung. Besonders die Veranstaltungen mit Josephine Apraku und Tupoka Ogette haben schon jetzt mein eigenes Denken über Rassismus, soziale Ungleichheit und andere Unterdrückungsmechanismen beeinflusst. 



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