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Dagmar Leupold | Die Helligkeit der Nacht. Ein Journal. 

Roman
C.H.Beck 2009
207 Seiten
18,90 Euro
ISBN 978-3-406-59071-9

von Karina Fenner | Download

Was wäre, wenn der große und umstrittene Heinrich von Kleist heute leben, wenn er einfach hier durch unsere Gegenwart spazieren würde? Die Vergegenwärtigung des Autors hatte im Jahr 2011, das zu Ehren seines 200. Todestages zum Kleist-Jahr ernannt wurde, Hochkonjunktur. Miriam Sachs lässt ihn auf eine frustrierte Germanistik-Studentin treffen, Tanja Langer rekonstruiert seinen letzten Tag auf Erden mit Henriette Vogel. Eine durch Brisanz und Originalität herausstechende Antwort liefert nun Dagmar Leupolds Roman Die Helligkeit der Nacht. Ein Journal.

Das Setting: ganz Deutschland. Die Protagonisten: die nicht ruhenden Geister von Kleist und Ulrike. Nicht seine geliebte Schwester Ulrike, sondern Ulrike Meinhof – Journalistin, Publizistin, RAF-Mitbegründerin. Und schließlich die Zeit: 2008 bis 2009. Diese drei Zutaten braucht es und nicht mehr, um eine Story zu imaginieren, die Witz, Gesellschaftskritik und dank der Eloquenz Leupolds die Poesie des großen deutschen Dramatikers mit der Poesie des Alltags der 00er gewissermaßen vereint, wenn auch nicht in Einklang bringt. Es ist die Seelenpost zweier lädierter Seelen (92), die Leupold versucht, aus der Kleist-Perspektive zu erschaffen. Ausgangspunkt ist ein Treffen der beiden Geister in Oßmannstedt, nach dem Kleist beginnt, Briefe an seine scheinbare Seelenverwandte zu.

Die Themen, die der durch das Deutschland des 21. Jahrhundert wandelnde Dichtergeist dabei in seinen Briefen hervorbringt, durchdringen zahlreiche Aspekte, die heute in der Kleist-Forschung großgeschrieben werden. Da findet man beispielsweise Kleists kritische Auseinandersetzung mit der Sprache wieder oder seine eigenwillige Betrachtung der Gesellschaft (überaus amüsant gestalten sich hier die Ansichten Kleist zu der Jugend von heute). Subtil werden gerade durch die Auseinandersetzung mit seinem fiktiven Gegenüber Aspekte der Genderidentität aufgegriffen. Wie schon in Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends irritiert es den fiktiven Kleist, wie weiblich er eigentlich zu sein scheint und wie männlich sein (biologisch) weibliches Gegenüber.

Und was kommt nicht noch alles dazu, wenn ein vor 200 Jahren Verstorbener durch Stuttgart oder Berlin schlendert! Was hat sich nicht alles verändert im Laufe der Zeit: Dort fehlt ein Baum, hier eine liebgewonnene Bank. Vielfarbige Krawatten wehen um die Hälse, Einkaufspaläste ragen zwischen Häusern empor, es gibt ein Kleist-Haus. Die Menschen telefonieren während sie kauen und über Straßen rennen, die nach Wichtigkeit und Zigarettenrauch riechen – jedes Jahrhundert erzeugt seine eigenen Affen (94), mehr kann auch der fiktive Kleist zu manch einer Eigenart des modernen Menschen nicht sagen.

Zentral ist neben diesem Gesellschaftsschock aber vor allem die Konstellation Kleist-Meinhof: Zwei Mythen treffen hier aufeinander, zwei Gestalten der Historie, die nicht zuletzt aufgrund ihres Freitodes zahlreiche offene Frage für die Nachwelt hinterlassen haben. Während Leupold die RAF-Mitbegründerin gar nicht selbst zu Wort kommen lässt (Kleist imaginiert lediglich die Antworten, die sie ihm seiner Ansicht nach schicken würde), verliert sich der fiktive Kleist mehr und mehr in der Obsession, mit Ulrike Meinhof im Dialog zu stehen; das merkt man an der immer wirrer aber intensiver werdenden Ausdrucksweise ebenso wie an den immer länger und ausgefeilter werdenden imaginierten Antworten seiner vermeintlich Verbündeten.

Ein wesentliches, die beiden Figuren verknüpfendes Element ist die Auseinandersetzung mit der Gewalt. Wie schmal ist der Grat zwischen Engagement und Terrorismus? Was ist Tat und Untat, wann ein Wagnis angebracht? (Wie es zum Roman, spezifischer noch zu eben dieser Auseinandersetzung mit Gewalt gekommen ist, verrät die Autorin in einem Gespräch mit Armin Kratzert: http://www.podcast.at/episoden/dagmar-leupold-die-helligkeit-der-nacht-19-10-2009-13713655.html). An einigen Stellen mag man als Leser den Eindruck haben, dass es gerade solchen komplexen Auseinandersetzungen ein wenig an Erkenntnis und Tiefe fehlt. So sympathisch der fiktive Geist des Dramatikers auch konzipiert ist – mit seinem verqueren Humor, seiner unbefriedigten Melancholie auch zu einem gewissen Grad authentisch – so wird es dem ein oder anderen Rezipienten doch an manch einer Stelle an einer Brise Radikalität in der Wahrnehmung des Protagonisten fehlen. Doch gerade diese Radikalität hätte dem im Gesamten eher fragenden, sinnierenden Konzept des Journals wahrscheinlich auch im Wege gestanden.

Alles in allem gelingt Dagmar Leupold ihr als Journal bezeichneter Roman, die Autorin schafft es, den Ton der echten Briefe Kleists, die stets sehr poetisch, kraftvoll und berührend waren, in ihre Fiktion zu verweben. So kann es ganz schnell passieren, dass man als Leser, getragen von den Worten wie eine Feder vom Wind, plötzlich auf der letzten Seite anlangt und sich fragt, wo die Zeit geblieben ist. Dabei erwischt man sich beim Lächeln und erinnert sich der Worte des vorletzten Briefes: „Das Lächeln ist der einzige Ausdruck des menschlichen Gesichts, in dem sich Wissen und Törichtsein mischen, darum liebe ich es so. Es ist die unwillkürliche Preisgabe und Zurschaustellung einer Ahnung. Und ums Ahnen geht es doch auch hier?“ (204).

Zur Autorin:
Dagmar Leupold wurde 1955 in Lahnstein geboren. Nach dem Studium der Germanistik, der Theaterwissenschaft, der Philosophie und der klassischen Philologie in Marburg und Tübingen hat sie einige Jahre als Lehrerin und Redakteurin in Florenz gearbeitet. Neben ihrer Tätigkeit als Schriftstellerin und Drehbuchautorin leitet sie heute das Studio Literatur und Theater der Universität Tübingen. Zu ihren Veröffentlichungen gehören zahlreiche Gedichte und Erzählungen, für die sie u.a. den Aspekte-Literaturpreis, den Staatlichen Förderpreis der Bayerischen Akademie der Künste und zuletzt den Georg-K.-Glaser-Preis erhielt.

(von Karina Fenner)


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