Donnerstag, 13.12.18 – 19 Uhr
KiZ (Kongresshalle)
Südanlage 3a
35390 Gießen
Eintritt frei
Moderation: Markus Roth (Arbeitsstelle Holocaustliteratur)
In Kooperation mit der Arbeitsstelle Holocaustliteratur.
Während der Lesung am 13. Dezember 2018 erzählte Johannes Winter, Journalist, Theodor-Wolff-Preis-Gewinner für essayistischen Journalismus und Publizist, in dem menschengefüllten KiZ das Leben von Ilse Stein und sprach von seiner Recherchearbeit zu seiner Erzählung Die verlorene Liebe der Ilse Stein. Deportation, Ghetto, Rettung. Die Lesung fand im Rahmen der Wanderausstellung »Vernichtungsort Malyj Trostenez. Geschichte und Erinnerung« und in Kooperation mit der Arbeitsstelle Holocaustliteratur statt. Markus Roth, Moderator der Veranstaltung, begrüßte das Publikum und stellte den Mitbegründer der Taz und HR-Nachrichtenredakteur Johannes Winter vor. Als Redakteur der Frankfurter Rundschau habe Winter ein sehr vielfältiges Themenspektrum betreut, wobei das Themenfeld Nationalsozialismus/Holocaust als besonderes hervorsteche. Denn Winter befasste sich, laut Roth, bereits vor Historiker*innen mit dem Thema »Erscheinungsformen des Nationalsozialismus im Dorf«. Anschließend stellte Roth den Veranstaltungsablauf vor: Gestartet werde mit dem Lesen verschiedener Ausschnitte und das nachfolgende Gespräch zwischen Moderator und Autor gehe in eine offene Diskussion mit dem Publikum über. Bevor Winter jedoch mit der Lesung begann, stellte er dem Publikum die Personen seiner Erzählung vor: Familie Stein aus dem Dorf Geiß-Nidda, darunter Vater Leopold, Mutter Hilda und die Töchter Lilli, Ilse und Lisa sowie den Hauptmann der Wehrmacht in Reserve, Willi Schulz aus Dresden. Schulz wurde nach Minsk abkommandiert, um dort als Beamter in der zivilen Besatzungsbehörde zu arbeiten. 1939 wurde die Familie Stein nach Frankfurt am Main vertrieben und im November 1941 in das Ghetto Minsk deportiert. Dort trafen die Steins und insbesondere Ilse auf den Wehrmachtsangehörigen Schulz. Willi, der zeitweise nach Malyj Trostenez, dem größten nationalsozialistischen Vernichtungsort in Weißrussland, abkommandiert war, rettete Ilse Stein und ihren Schwestern das Leben.
Während der vorgelesenen Passagen wurde deutlich, dass die Beziehung zwischen Ilse Stein und Willi Schulz eine besondere war. Als erstes erfragt Roth in der folgenden Unterhaltung mit Winter, wie dieser auf diese besondere Geschichte von Ilse Stein gestoßen sei. Winter erläutert, dass er über seine Recherchetätigkeiten zu »Erscheinungsformen des Nationalsozialismus im Dorf« per Zufall in den Besitz eines handschriftlichen Briefs von Ilse Stein gelangt ist und daraufhin Kontakt mit ihr aufgenommen hat. Auf die Nachfrage des Moderators, welche Quellen Winter für seine Erzählung genutzt hat, erklärt dieser folgendes: »Meine Recherchen […] fußen immer auf zwei Quellen: das eine ist das, was man in der Geschichtsschreibung oral history nennt, also die persönlichen Erinnerungen von Zeitzeugen, in dem Fall natürlich ein Opfer […] und die zweite Quelle sind Dokumente. Also Schriftliches, was in irgendwelchen Archiven liegt.« Dokumente seien vor allem für die Person Willi Schulz zentral gewesen, weil er nicht mehr lebte und demnach nicht als Zeitzeuge zur Befragung verfügbar war. Zugleich dienten die Staatsarchivmaterialien Winter der Prüfung von Ilse Steins Erzählungen. Denn was Erinnerung ausmache, sei, dass sie ihre eigene Wahrheit habe. Sie sei ein spezielles Gebilde, welches zum Teil mit einer historischen Wahrheit zutun habe, zum Teil aber auch nicht. »Was die oral history angeht, also Interviews mit Zeitzeugen, so bin ich […] erstmal in ihrem Dorf unterwegs gewesen«, so Winter weiter. Im Jahr 1990/91 sei das Elternhaus von Ilse Stein in Geiß-Nidda bereits von den neuen Eigentümern abgerissen worden, wobei Winter hier einen Vergleich von Mikro- und Makro-Gesellschaftsebene zieht: Auf privater Ebene sei die deutsche Art, mit Geschichte umzugehen, realisiert worden. Anschließend nennt Winter noch ein drittes Element, die Sekundärliteratur, welche er zum Verfassen seiner literarischen Reportage um Ilse Stein genutzt hat. Die Form der literarischen Reportage gebe ihm die Möglichkeit, beispielsweise Einzelheiten aus dem Ghetto aus zurate gezogener Sekundärliteratur zu beschreiben.
Roth erfragte als nächstes, ob und wann der Wendepunkt im vorerst typischen Verhalten des Wehrmachtssoldaten eintrete. Daraufhin berichtet Winter von einem Forschungsprojekt über Wehrmachtsmitglieder, die innerlich die Seite gewechselt und ihrer Rechte beraubten Menschen geholfen hätten. Bezogen auf 17 Millionen Wehrmachtsmitglieder habe Winter im Rahmen des Projekts 100 Männer ausfindig machen können, die ihrer Moral gefolgt seien und dem Rettungswiderstand zuzuordnen wären. Außerdem habe er im Rahmen des Projekts eruieren können, dass es keine verallgemeinerbaren Kategorien gebe, wieso eine Person zum*r Retter*in werde. Es handele sich immer um den individuellen Fall, eine bestimmte historische Situation, in der jemand eine Entscheidung treffe und sein Verhalten danach anpasse. Im Fall von Willi Schulz vermutet Winter, dass Schulz väterliche Gefühle für die damals 17-jährige Ilse entwickelte und er durch die Abkommandierung an den Vernichtungsort Malji Trostenez seine moralische Pflicht nicht länger unterdrücken konnte. Mithilfe der Partisanen ermöglicht Schulz die Rettung Ilses und ihrer Schwester und wird dadurch dem Rettungswiderstand zugezählt.
Wie das Umfeld von Schulz und Stein auf deren Verhältnis reagierte, möchte Roth anschließend wissen. Die Abkommandierung von Schulz sei ein Indiz dafür, dass man ihn genauer unter Beobachtung nehmen wolle und das Verhältnis zu Ilse nicht billige. Letztlich habe allerdings die Abkommandierung zur Umwandlung von Schulz in einen Retter geführt. Weiter beschreibt Winter die Flucht aus dem Ghetto Minsk ausführlicher und auf Nachfragen des Publikums auch, was mit den Schwestern von Ilse während der Flucht passiert ist. Lilli, die ältere Schwester, wurde von den Partisanen an einen Bauern übergeben, denunziert und von den Deutschen getötet. Lisa, die jünger Schwester, sei davongelaufen, in den Wald, und nach Kriegsende in ein Kinderheim gebracht worden. Ilse und Lisa haben sich nach Kriegsende wiedergefunden, wobei Lisa ihre ältere Schwester aufgrund der schrecklichen Belastungen nicht wiedererkannte. Traurig berichtet Winter weiter, dass Ilse Stein mit 68 Jahren während einer OP gestorben ist, bevor die beiden den zweiten Deportationsort Ilses aufsuchen konnten. Zuletzt spricht Winter noch den Dokumentarfilm Die Jüdin und der Hauptmann von Ulf Mechow an, welcher Ilse Steins Leben thematisiert. Er habe den Film mit seiner Recherche ausgelöst und eine Zeit lang auch bei dessen Realisierung mitgeholfen. Verwiesen wird am Ende der Veranstaltung noch auf die Ausstrahlung dieses Dokumentarfilms im Januar 2019 und Moderator und Autor bedanken sich beim LZG und den Anwesenden für die Aufmerksamkeit und das hohe Interesse.
(Amandine Olbort)