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Patrick Modiano | Place de l'Étoile 

Roman
Carl Hanser Verlag 2010
192 Seiten
17,90 Euro
ISBN 978-3446233997
Im Mai 2012 auch als Taschenbuch bei dtv erschienen

von Matthias Kremp | Download

Nach über 40 Jahren liegt nun der furiose Erstling von Patrick Modiano auf Deutsch vor: ein atemraubender Parforceritt und literarisches Glanzstück

Patrick Modianos Debütroman von 1968 ist ein literarischer Wirbelwind, der seinen Helden ebenso durchrüttelt und -schüttelt wie seinen Leser. Dieser Held, Raphaël Schlemilovitch, erzählt uns in halluzinierenden Episoden seine schwindelerregende Autobiografie.

Der junge Schlemilovitch, jüdischer Kosmopolit und gesellschaftlicher Außenseiter im Frankreich vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, ist ein Reisender zwischen Orten und Zeiten, der im Laufe seiner Irrfahrt mehrmals stirbt und zahlreiche Lebensentwürfe durchwandert: Mal ist er assimilierter Jude, der bloß Karriere machen will, mal »antisemitischer Kollaborationsjude« in Diensten der Gestapo, mal »jüdischer Dandy« und Zuhälter einer jungen Marquise aus der Proustschen Romanwelt«. Sogar eine kurze Karriere als Liebhaber von Eva Braun ziert seinen Lebenslauf, bevor er schließlich von Doktor Freud eine »jüdische Neurose« attestiert bekommt und sich von der Couch mit einem Stoßseufzer verabschiedet: »›Ich bin so müde‹, sagte ich, ›so müde…‹«.

Schlemilovitch ist vieles und doch immer eines zugleich: das literarische Zerrbild des »Ewigen Juden«.
Mit grotesker Übersteigerung und feinen literarischen Anspielungen wirbelt Modiano jüdische und antijüdische Klischees und so manchen nationalen Mythos, wie der einer in der Résistance vereinten Grande Nation, im spöttischen Maskenspiel seines Helden durcheinander und stellt sie bloß. Er beschwört die zwielichtige Atmosphäre der französischen Kollaborationszeit herauf, um ihre langen Schatten, die sich über die Nachkriegszeit gelegt haben, bis in die verwinkeltesten Ecken auszuleuchten.

Bereits in dem scharfen jüdischen Witz, den Modiano seinem Roman vorangestellt hat, macht er die ganze Tragödie deutlich, die hinter der Narrenposse zum Vorschein kommt:
»Im Juni 1942 tritt ein deutscher Offizier auf einen jungen Mann zu und sagt: ›Pardon, monsieur, où se trouve la place de l’Étoile?‹ Der junge Mann zeigt auf die linke Seite seiner Brust.«
Place de L’Étoile bezeichnet nicht nur den berühmten Pariser Platz, aus dessen Mitte der Triumphbogen als Symbol nationaler Glorie emporragt, jener sternförmige Platz, vom dem die Rue Lauriston abzweigt, in der die »französische Gestapo« während der Okkupations- und Kollaborationszeit ihren Sitz hatte. Place de L’Étoile meint auch den Ort über dem Herzen, an dem ab Juni 1942 alle französischen Juden ab dem sechsten Lebensjahr den »Judenstern« zu tragen hatten.

Nach über 40 Jahren liegt nun dieser furiose Erstling in der kongenialen Übersetzung von Elisabeth Edl auf Deutsch vor, die dem Roman noch ein außerordentlich kenntnisreiches Nachwort beigegeben hat.
Place de l‘Étoile ist der provokante Aufschrei eines jungen Autors, ein Roman mit jugendlichem Furor geschrieben, der sich um die Frage nach einer unbewältigten Vergangenheit entwickelt, ein atemraubender Parforceritt durch die französische Zeit- und Literaturgeschichte. Kurzum: ein literarisches Glanzstück.

Von Matthias Kremp


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