Geisterbahn. Ursula Krechel liest aus ihrem neuesten Roman 

Ursula Krechel © Gunter GlücklichUrsula Krechel © Gunter Glücklich

Dienstag, 9.4., 19:30 Uhr

Hermann-Levi-Saal
Konzertsaal im Rathaus
Berliner Platz 1
35390 Gießen

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Wie kann man Geschichte erlebbar machen? Wie die Zeichen einer Zeit darstellen, die uns heute fremd geworden ist? Wie die Gefühle und das Ungerechte des vergangenen Jahrhunderts gegenwärtig machen?

Eine undurchdacht wirkendende Antwort könnte lauten: Indem man neugierige Menschen mit auf eine Reise in vergangene Zeiten nimmt. Doch findet sich heute nirgendwo eine Zeitmaschine. Es existiert kein »Flux-Kompensator« und auch keine fliegende Lokomotive, die durch Dimensionen gleiten kann. Doch Ursula Krechel geht in ihrem Roman Geisterbahn (Jung und Jung Verlag) andere Wege und nahm alle Gäste der Lesung im Herman-Levi-Saal auf eine andächtige Fahrt durch zwei unterschiedlich »klimatisierte« Auszüge ihres Romans, der neben dem viel beachteten Roman Landgericht (2012) und Shanghai fern von wo (2008) den Abschluss einer Trilogie über den Zweiten Weltkrieg und die unmittelbare Nachkriegszeit bildet. Ursula Krechel kriecht dabei in Lücken »in das Nicht-Ausgeleuchtete«, wie die Moderatorin des Abends Heidrun Helwig (Gießener Anzeiger) feststellte. Mit Geisterbahn zeichnet sie ein literarisches Panorama um ihre Heimatstadt Trier nach. Zunächst aber nahm sie die zahlreichen Zuhörer*innen mit nach Berlin ins Jahr 1936.

Das nationalsozialistische Regime bereitet sich auf die Olympischen Spiele vor – eine Veranstaltung, die die Vorzüge der NS-Herrschaft vor ausländischen Gästen zeigen soll. Berlin soll schöner werden, alle unerwünschten Bewohner*innen der Stadt, so vor allem die sogenannten »Zigeuner«, müssen »umgesiedelt« werden. Alfons und Laurenz aus Trier werden ganz unvermittelt zu Zeugen und Betroffenen dieser bitteren Praxis. Die Schausteller versuchen auf einer Fachmesse ein Karussell für ihren fahrenden Jahrmarkt zu bekommen. Als Sinti verwehrt man ihnen kaltschnäuzig das Geschäft. Verunsichert suchen sie Schutz und Zerstreuung bei anderen Sinti, werden verhaftet und auf einen zentralen Lager- und Zeltplatz ins Berliner Umland verschleppt, von dem es kein Entkommen gibt. Fadenscheinig wirkt dabei die Begründung für ihre Festnahme, haben sie doch gültige Papiere und einen Wohnsitz in Trier vorzuweisen, den die nationalsozialistischen Behörden ignorieren. Ursula Krechel hatte die Vorstellung ihres Romans bewusst in zwei Teile gegliedert – das Dunkle und das Helle der deutschen Geschichte, wie sie selbst sagte. Man merkt dem Roman die Faktentreue an, auf deren Gerüst die Autorin den Zuhörer*innen die Geschichte der Sinti-Familie Dorn näher zu bringen versuchte. Dabei war es ihr wichtig, keine Stereotypen zu konstruieren. Die Geschichte um die Familie Dorn ist eine Erzählung über erfolgreiche Schausteller*innen, nicht über Menschen, die aufgrund wirtschaftlicher Zwänge ein Wandererleben im Rheinland führen müssen. Ihre Figuren erzählen von dem Leid einer Zeit, die nicht in Vergessenheit geraten darf. Die Autorin schreibt sehr dicht an den Gefühlen der Betroffenen entlang, ohne dabei in Kitsch abzurutschen. Dies gelingt ihr auch dadurch, dass sie sich für ihre Figuren einsetzt, Begründungen dafür liefert, warum Familie und Nachkommenschaft für die Sinti genauso einen hohen Stellenwert haben wie das Musizieren im geschützten Kreis der eigenen Gemeinschaft. Man fühlte mit Laurenz und Alfons mit, die nicht ahnen, was ihnen noch bevorsteht, sich nach ihren Familien sehnen. Krechel machte dem Publikum deutlich, wie wertvoll die Vorstellung von Glück und Zugehörigkeit für alle Menschen, unabhängig von Schicht und Glaube, ist. Sie stellte diese universellen Werte dem Faktum nationalsozialistischer (Unrechts-)Sprache gegenüber, die im ersten Teil der Lesung in einer Erläuterung des sogenannten »Runderlasses zur Bekämpfung der Zigeunerplage« gipfeln. Ein Moment, der den Besucher*innen die Schrecken des Nationalsozialismus noch einmal bewusst machte. Es ist ein »Zusammenprall der Sprachschichten«, des Dunklen einer Zeit, das glücklicherweise nichts mit unserer heutigen Lebensweise zu tun hat. Die Geschichte der Dorns ist dabei etwas, das allen Anwesenden unbequeme Wahrheiten vergangener Zeiten vor Augen führte, vielleicht sogar über die Ungerechtigkeiten erschaudern ließ, die Sinti und Roma zu Teil wurden, weil sie nicht in die perfiden Gesellschaftsentwürfe einer menschenverachtenden Ideologie passten. Vielleicht ist der Roman deshalb auch als ein Beispiel dafür zu verstehen, dass Gesellschaften durch Ausgrenzung und Hass immer anfällig in ihrem Bestreben sein werden, ein gerechtes und harmonisches Zusammenleben erfolgreich aufrechtzuerhalten.

Im zweiten Teil der Lesung vollzog Ursula Krechel einen Zeitsprung in die Fünfzigerahre einer jungen Republik, die doch so mit ihren Altlasten zu kämpfen hat, dass die Autorin hier bewusst Kinder sprechen lässt. Die Erwachsenen dieser Zeit müssen verstummen, weil sie sich schuldig gemacht haben. Es ist an der nach dem Krieg geborenen Generation, eine Zeitenwende herbeizuführen. Ihr gibt die Autorin bewusst eine Stimme und mag nicht ganz zufällig eine Klasse ausgewählt haben, deren Geburtsjahr sich mit ihrem eigenen (1947) überschneidet. Beginnt hier das Helle in der Geschichte? Es wirkte fast wie eine neue Ideologie, als Krechel den Gießener*innen klar zu machen versuchte, dass »Rassenzugehörigkeit« nun zugunsten eines Oben- und Unten-Denkens in der Gesellschaft weichen musste. Wer ist beruflich erfolgreich? Wessen Mutter ist alleinerziehend? Wessen Familie durch einen gefallenen oder gefangenen Soldaten belastet? Einen Krieg also, den man doch so gerne vergessen und hinter bürgerlichen Fassaden verstecken würde. Die jüngste Tochter der Schaustellerfamilie Dorn muss es herausfinden. Sie muss sich mit den Ansichten ihrer Klassenkameraden auseinandersetzen, deren Eltern die Nachkriegszeit für die eigene Reorganisation und auch das bewusste Verleugnen missbrauchen. Oder aber mit Familien, die nach wie vor von dem Hass einer alten Elitengeneration bedroht sind, wie ihre eigene.

Für Ursula Krechel endete mit der Veröffentlichung eine langjährige Arbeitsphase in Archiven und an ihrem eigenen Schreibtisch. Für die zuhörenden Gäste begann eine durch die Moderation von Heidrun Helwig aufbereitete Frageeinheit. Wie man es schaffe, sich beim Schreiben von den Themen der Zwangssterilisation und der Verschleppung von hunderten Menschen emotional zu distanzieren, will eine Zuhörerin wissen. »Indem man eine Schutzpatenschaft für seine Figuren einnimmt, die Figur spreche lässt«, antwortet Krechel. Dafür reiche es, sich bewusst zu machen, wie gut man es in unserer Zeit haben kann, auch wenn diese von dunklen Flecken durchsetzt sein mag. Ebenso lag es der Autorin am Herzen, das Bewusstsein für neue Ideen und einen Generationenwechsel zu wecken, da in den Kindern von heute die Zukunft aller Menschen liege. Mit ihrem Roman gelingt es Ursula Krechel, turbulente Themen und Stolpersteine in einen rasanten Handlungsablauf zu integrieren. Für die begeisterten Zuhörer*innen entwarf sie im Saal des Rathauses eine Fahrt zu den Schreckgestalten und Opfern einer Vergangenheit, die sich nicht wiederholen darf, und mit dem Applaus der Anwesenden ein gelungenes Ende fand.

(Sebastian Ernst)


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