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Philipp Meuser [Hg.] | Architekturführer Pjöngjang 

2 Bände. Reiseführer Nordkorea
DOM Publishers 2011
360 Seiten
38.00 Euro
ISBN 978-3869221267

von Lothar Schneider | Download

Von Monumenten und Menschen.

Selbst wenn Sie kein(e) Architekt(in) sind und in nächster Zeit keine Reise in die Hauptstadt der Volksrepublik Nordkorea planen, ist der Architekturführer Pjöngjang eine unterhaltsame, bisweilen spannende und auf jeden Fall faszinierende Lektüre. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen.

1. Nordkorea ist einer der abgeschottetsten und zugleich aufdringlichsten Staaten dieser Erde: Informationen über Land und Leute, über die tatsächlichen Machtverhältnisse und die Lebensbedingungen seiner Bewohner werden extrem restringiert; gleichzeitig scheint das herrschende, auf eine Militärkaste gegründete System die eigene Subsistenz nur durch waghalsige außenpolitische Drohgebärden erpressen zu können und dabei nicht davor zurückzuschrecken, die eigene Bevölkerung in Geiselhaft zu nehmen. Nordkorea ist also in den Medien ständig präsent. Dazu kommen ein bizarrer Führerkult und eine nicht minder seltsame Staatsdoktrin, die Juche-Ideologie (sprich: Dschutsche-Ideologie).

Für alle, die an einem Blick in diese fremde Welt Interesse haben, ist der Architekturführer Pjöngjang eine großartige Gelegenheit: Dass die Stadt im Koreakrieg 1950-53 fast völlig zerstört worden war, ermöglichte den Machthabern beim Wiederaufbau eine widerstandslose Darstellung ihrer Ideologie als Stadtraum. Nirgendwo sonst ist die Vorstellung einer stalinistisch- sozialistischen Moderne umfassender – oder totalitärer – inszeniert worden.

2. Trotzdem ist dies der erste Architekturführer Pjöngjangs. Möglich wurde er durch einen Trick, der oberflächlich betrachtet bedenklich erscheinen mag, sich aber bei genauerem Hinsehen als raffinierte Inszenierung entpuppt: Das Werk besteht aus zwei Bänden mit verschiedenen Herausgebern. Band eins wird vom Verlag für Fremdsprachige Literaturen Pjöngjang verantwortet, Band zwei von Philipp Meuser selbst. Band eins beinhaltet also die Selbstdarstellung des Regimes, Band zwei die Erfahrung und Bewertung seiner Wirklichkeit durch externe Beobachter. (Ergänzt durch einen Schlüsseltext zur Architekturtheorie, der unter dem Namen Kim Jong-ils veröffentlicht ist.)

Band eins zeigt die wichtigsten Bauten Pjöngjangs, nach Funktionen gruppiert, mit technischen Angaben versehen und gelegentlich durch Grundrisse ergänzt. Dabei dominiert der Blick der klassischen Moderne: architektonische Solitäre in lichten Totalen vor weiten Himmeln, ab und an eine abendliche Szenerie, in der sich die Illumination der Stadt in regennassen Straßen spiegelt. Als gäbe es keine Stromsperren. Wenige Menschen als Staffage, kaum Verkehr. Die ‚Massen’, die in den Angaben zum riesigen Fassungsvermögen der Arenen und Veranstaltungsräume ständig beschworen werden, fehlen fast völlig – nur vor dem Kim Il-sung-Denkmal verneigt sich eine kleine, tief gebückte Gruppe (Bd. 1., S. 38f.); lose Gruppen steigen auch die Treppen zur Statue des ‚geliebten Führers’ hinauf oder verlassen die ‚Weihestätte’ gerade (Bd. 1, S. 8f.).

Beim Durchblättern wundert man sich vielleicht, allen Stilrichtungen der Moderne zu begegnen, dazu gigantischen Weiterführungen koreanischer Tradition. Mehr und mehr liest man dann die beigefügten Beschreibungen und schüttelt den Kopf angesichts der bisweilen hilflos erscheinenden Widersprüche zwischen Bild und Text – etwa bei den Restaurants in der Changwang-Straße, wo in dreißig Spezialitätenrestaurants Platz für 2000 Gästen versprochen wird, aber nur eine fast menschenleere vorabendliche Neubauszenerie aus über zehngeschossiger Wohnbauten mit einer vorgelagerten eingeschossigen Geschäftszeile zu erkennen ist, als handele es sich um einen verlassenen städtebaulichen Fehlgriff der siebziger Jahre (Bd. 1, Seite 88f., Nr. 68). Doch dann provoziert die ostinate Abwesenheit der permanent beschworenen Massen eine Handlung, die sich besonders im zweiten Band zu einem großen – und sicherlich nicht unbeabsichtigten – Vergnügen auswachsen wird: Man greift zur Lupe und beginnt, in dieser steingewordenen Ideologie Spuren des Lebens ihrer Bewohner zu suchen.

3. Der zweite Band stellt die menschliche Perspektive in den Mittelpunkt: Dem Vorwort Meusers (Bd. 2, S. 6-22) und einer Reihe panoramatischer Aufnahmen der Innenstadt (Bd. 2, S. 22-39) folgt ein Architektonisches Kuriositätenkabinett. Ein Spaziergang durch Pjöngjang: Meuser reflektiert die Erfahrung dieser „Architektur als Kulisse der Gesellschaftsidee“ (Bd. 2, S. 40-83, hier S.47), eine Darstellung der koreanischen Baugeschichte durch den südkoreanischen Architekturhistoriker Ahn Cang-mo (Bd. 2, S. 84-137) schließt sich an und ein Reihe von Aufnahmen des berühmten Arirang-Festivals, bei dem in Massengymnastik lebende Bilder auf dem Stadionrasen gestellt und durch das Hochhalten farbiger Tafeln auf einer Tribüne inszeniert werden (Bd. 2, S. 138-161). Danach liefert Christian Posthofen die theoretische Grundierung des Bandes, wenn er das Architekturkonzept der Juche-Ideologie als Versuch einer umfassenden Selbstlegitimation durch Mythenstiftung interpretiert (Bd. 2, S. 162-183). Es folgt der – ebenfalls von Posthofen kommentierte – Auszug aus dem Kim Jong-il Traktat Über die Baukunst von 1991 (Bd. 2, S. 184-220) (Man könnte es, wäre der Begriff der ‚Masse’ hier nicht abstrakt zu verstehen und wüsste die Partei nicht immer schon, was die Masse will, aktuell als Plädoyer für Bürgerbeteiligung lesen.) Erneut Meuser widmet sich der Agitation im Stadtraum (Bd. 2, S. 220-235), bevor den Band mit einem Apparat beschlossen wird. Der Präsentation der Stadt im ersten Band folgt also deren Interpretation im zweiten. Dabei sind die Texte gut lesbar, man fühlt sich informiert und gewinnt den Eindruck einer Verstehbarkeit, nicht Verständlichkeit dieser in vielfacher Hinsicht befremdlichen Welt.

4. Zu dieser Verstehbarkeit tragen weitere Tatsachen bei: Man begegnet auf den Fotos jetzt Menschen und Monumenten auf Augenhöhe. Selbst die Vogelperspektive der Panoramaaufnahmen wirkt menschlich, da sie die ‚Prachtbauten’ nicht entkontextualisiert, sondern der Normalität des Alltagslebens integriert: Man kann informelle Gruppen am Straßenrand beobachten; Wäsche auf der Leine sehen oder zwei Bewohner bei der Gartenarbeit auf einen Hausdach (Bd. 2, S. 28f.); man liest Widmungstafeln am Juche-Turm und fragt sich, ob es in der „Druckerei Tusch, Österreich“ eine Gruppe für das Studium des Dschutsche-Ideals des großen Führers Marschall KIM IL SUNG gegeben hat und noch gibt (Bd. 2, S. 20). Am Beispiel der beiden neugezüchteten Blumen Kimilsungie und Kimjonilie, die Vater und Sohn dieser einzige sozialistischen Dynastie verkörpern, wird die ideologische Durchdringung der Gesellschaft exemplifiziert, ihr Größenwahn am Beispiel des 105 geschoßigen Hotels Ryugyong gezeigt, dessen Bau 1989 vermutlich aus finanziellen Gründen eingestellt werden musste und erst 2010 mit ausländischen Mittel fortgeführt werden konnte. (Bd. 2, S. 38 u. 68-70. Im Band 1 ist es nur auf wenigen Aufnahmen schemenhaft im Hintergrund zu erkennen [Bd. 1, S. 27;59; 68].)

5. Der Architekturführer Pjöngjang bietet also im ersten Band einen offiziellen Text – und unterläuft ihn im zweiten; er zeigt die Ideologie – und betreibt deren Subversion. Dabei ist das Abgleiten in ‚besserwisserische’ Positionen selten; den Vorwurf, Propaganda betrieben zu haben, kann nur erheben, wer die richtige, nämlich seine Propaganda vermisst. Es handelt sich um ein im besten Sinne postmodernes Buch – und nebenbei um eine eindrucksvolle Demonstration dessen, was dieses vermeintlich antiquierte Medium bei richtigem Gebrauch zu leisten im Stande ist. Die einzige Gefahr des Architekturführers liegt darin, dass er Sie nun doch für eine Reise nach Pjöngjang begeistert hat und Sie dabei auf ihn nicht verzichten wollen. Beherzigen Sie in diesem Fall den Hinweis auf Seite 239 des zweiten Bandes: Lassen Sie Ihren Architekturführer zuhause – es könnte sein, dass er im Lande nicht wohl gelitten ist!

(von Lothar L. Schneider)


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