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Ulrich Greiner | Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur 

Reinbek: Rowohlt Verlag 2014.
352 Seiten.
22.95 €
ISBN 978-3-498-02524-3

von Lothar Schneider | Download

Schämen Sie sich!

Vielleicht erscheint Ihnen der Imperativ des Titels dieser Rezension nicht zeitgemäß, vielleicht erinnern Sie sich, in Ihrer Kindheit das intimere "Schäm' Dich!" gehört haben zu müssen, vielleicht sogar unterstützt durch den moralischen Zeigefinger "Du solltest Dich schämen!" Vermutlich war die Situation aussichtslos, vermutlich haben wir sie irgendwann als Aufforderung zur Selbstbestrafung verstanden und mit dem dringenden Wunsch reagiert, ihr zu entkommen. Als Erwachsene würden wir uns schon dem Imperativ der Titelaufforderung ungern beugen, doch vor allem ihr Inhalt, das Gebot, sich zu schämen, beleidigt, denn es verlangt, unser Verhalten als verfehlt und uns selbst als der Situation nicht gewachsen anzusehen.

Vielleicht jedoch betrachten Sie Scham als ein Relikt vergangener Zeiten, dem Sie durch die neuere Kultur der Offenheit und der Bereitschaft, alles zu thematisieren, zu problematisieren und zu diskutieren, glücklich entkommen sind. Greiner hätte Einwände: Er versteht Scham als hohes kulturelles Gut und hält ihren schleichenden Verlust, den er in der Gegenwart diagnostiziert, für problematisch. Auch wenn es nichts gäbe, dessen man sich per se schämen müsste, wäre es gut, Scham empfinden zu können und die empfundene Scham nicht überspielen zu müssen – nur noch darauf bedacht, die entstandenen Peinlichkeiten zu vermeiden. Das Verhältnis von 'Schamkultur' und 'Peinlichkeitskultur', von Gesellschaft und Gemeinschaft, Distanziertheit und Authentizitätsgebot sowie die Transformation des ersteren Merkmalskomplexes zu letzterem sind Greiners Themen.

Das sehr gut lesbare, über weite Strecken sehr unterhaltsame Buch des früheren Feuilletonchefs der Zeit verwebt mühelos drei Stränge: Greiner zeichnet eine Kulturgeschichte der Scham von der ausgeprägten Distinktionskultur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts über deren Zerfall zu Beginn des zwanzigsten bis hin zu den gegenwärtigen "Rituale[n] der Peinlichkeitskultur" (S. 326); dabei referiert und diskutiert er klassische wie aktuelle Texte zur Theorie der Scham (u.a. Kierkegaard, Scheler, Freud, Sartre, Elias, Bataille, Bourdieu, Foucault) und skizziert in einer Reihe eleganter und ausführlicher Referate und Interpretationen die literarische Motivgeschichte des Gegenstands von Karl Philipp Moritz bis Leif Randt, von Nathaniel Hawthorne bis Marina Abramovic mit einem besonderen Augenmerk auf Franz Kafka, Thomas Mann, Rudolf Borchardt und Ernst Jünger.

Lediglich dort, wo sich Greiner offensichtlich seiner Leser versichern will und die sachliche Ebene der Darstellung mit wertenden Beschreibungen verwässert, leidet der Lesegenuss. Gleich, ob es sich dabei um ein persönliches Bekenntnis oder um Adressatenorientierung auf ein erschrecktes Bildungsbürgertum handelt, dem Kulturgeschichtler der Scham sollte bewußt sein, dass das Schamempfinden nicht umgekehrt proportional zur Größe der Kleidungsstücke ist, sondern beide in einem sehr viel komplexeren Verhältnis stehen, wie Wilhelm Bölsche schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts bemerkt hatte und Slutwalks jüngst wieder in Erinnerung gerufen haben. Auch die Invektiven zu Lady Gaga und Charlotte Roche hätte sich Greiner sparen können. Zudem hätte die Analyse hier sorgfältiger und unvoreingenommener ausfallen können, während Beschreibung und (eigentlich zu vermeidende) Wertung zu separieren gewesen wären, zumal Greiner die beiden von ihm diagnostizierten Kulturformen selbst trennt und eine Eigenlogik der jüngeren Form anzudeuten scheint:
"Der neue Kodex, der wiederum so etwas wie eine Tradition auszubilden im Begriff ist, lässt sich mit Wörtern wie Selbstverwirklichung, Karrierefähigkeit und Durchsetzungskraft umschreiben. In diesem Kontext, den man leicht dem Verhalten westlicher Eliten ablesen kann, spielt die Schuldkultur, mit der die Älteren unter uns noch aufgewachsen sind, keine erhebliche Rolle mehr." (S. 284)

Eine extensive Beschreibung des neuen Dispositivs hätte das Greinersche Projekt überfordert (das Feuilleton der Zeit hat sich unlängst dem Themenfeld gewidmet ), doch wären in diesem Fall Enthaltsamkeit und der Verzicht auf den irreführenden Rückentext des Schutzumschlags besser gewesen.

Berücksichtigt man dies, erwartet einen ein Sachbuch von seltenem Lesevergnügen, das gleichermaßen informiert und auf weitere Lektüren Lust macht und das bei aufmerksamer Lektüre zudem über die Schwierigkeiten der liberalen Bildungselite mit der Gegenwartskultur informieren kann – und vielleicht sogar über einige Schwierigkeiten, die diese Kultur mit sich selbst hat. Seine wichtigste Lehre jedoch ist: Sie sollten sich schämen (können)!


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