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Wolfgang Herrndorf | tschick 

Roman
Rowohlt 2010
256 Seiten
16.95 Euro
ISBN 978-3871347108

von Jennifer Sprodowsky | Download

On the Road Again/ Just Can’t Wait to Get on the Road Again (Willie Nelson)

Das Bild der leeren Straße, die den Fahrer im Sonnenuntergang zum endlosen Horizont führt, ist seit Jahrzehnten ein einschlägiges Motiv in Literatur und Film. Der Held macht sich auf den Weg, weil dort, wo er herkommt, kein Platz für ihn ist. Er lässt sich ins Ungewisse treiben, weil es genau da etwas zu hoffen gibt. Es geht zunächst um das Verneinen des Gewesenen. Am Ende steht das große Fragezeichen vor dem Zukünftigen. Dazwischen, auf der Straße, reiht sich Abenteuer an Abenteuer.

Dass für dieses Unterwegssein kein Führerschein von Nöten ist, zeigt uns Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick. Seine Protagonisten haben soeben die achte Klasse abgeschlossen. Um sich zu berauschen, bedienen sie sich im Gegensatz zu Kerouacs Dean Moriarty und Sal Paradise keiner Drogen, sie ernähren sich hauptsächlich von Cola und Eis. Sie müssen auch keinen Mann umbringen wie Thelma und Louise, um ihrem Motor einen letzten endgültigen Antrieb zu geben.

Das einzige, was der Ich-Erzähler Maik und sein Klassenkamerad Tschick benötigen, sind öde Sommerferien und ein Dasein als Außenseiter in der 8c eines Berliner Gymnasiums.

Bevor er ihm wegen Langeweile und Unauffälligkeit wieder aberkannt wurde, war Maiks Spitzname „Psycho“. Ein stolz vorgetragener Aufsatz über seine Mutter, die regelmäßig nach zu vielen leeren Flaschen Urlaub auf einer Beautyfarm macht, verschaffte ihm dieses Ansehen. Tschick ist der Neue in der Klasse: ein Russe mit Schlitzaugen, wenigen Worten und sporadischen Alkoholfahnen – alles in allem genug Gründe, um nicht auf die lang erwartete und vielfach diskutierte Geburtstagsparty des Klassenschwarms Tatjana eingeladen zu werden. Dieses harte Los verbindet und so lässt sich Maik, von seinen Eltern im Haus mit Pool über die Ferien allein gelassen, von dem zu Beginn etwas furchteinflößenden, weil ruhigen Tschick überreden, mit einem geklauten Lada in die Walachei zu fahren.

Das zunächst noch konkrete Ziel in Rumänien, wo sich ein paar von Tschicks Verwandten befinden, verschwimmt im Verlauf der Erzählhandlung immer mehr. Über Felder, Dörfer und Autobahnen lassen sich die beiden Jungs durch die nun nicht mehr genau definierte Walachei südöstlich von Berlin treiben. Es lässt sich erahnen, dass die Reise zweier Achtklässler ohne Führerschein, aber dafür mit einem geklauten Auto nicht ganz unproblematisch ablaufen wird. Vermutlich werden sie auf die Polizei treffen und versuchen, ihr zu entkommen. Wenn es hart auf hart kommt, kann es sein, dass Schüsse fallen. Vielleicht werden sie auch einen Unfall haben und dem Tod ins Angesicht blicken. Und eventuell werden sie neue Freunde finden und sich sogar verlieben. All dies sind Erwartungen des Lesers, die Herrndorf anscheinend nicht enttäuschen möchte. Er versucht erst gar nicht, ihn in die Irre zu führen, setzt stattdessen auf die Wie-Spannung und gewinnt. Wie der gesetzesbrechende Ferienspaß ausgeht, verrät uns der pubertierende Erzähler auch schon auf den ersten Seiten. Er scheint ein dringendes Bedürfnis zu verspüren, all das Erlebte loszuwerden, und gerät in einen derartigen Erzählfluss, dass er sich manchmal sogar selbst ermahnen muss, zum Eigentlichen zurückzukehren.

Während Tom und Huck sich schließlich auf den Weg machen, fragt man sich als Leser zugebenermaßen immer wieder, wer mit dieser Geschichte angesprochen werden soll. Ist es ein Jugendroman für weitere Coming-of-Age-Gestresste, damit sie sich mit ihren Problemen nicht alleine fühlen? Ist es eine Erzählung für Erwachsene, die sich wieder jung fühlen möchten oder sollten? Bin ich der intendierte Rezipient dieses Romans?
Seite für Seite relativieren sich diese Fragen und ganz automatisch hat man die Einladung in den Gedankenzirkus eines Achtklässlers angenommen. Dort treten Liebeskummer, Fernweh, Euphorie, Freundschaft, Selbstzweifel und grenzenloses Vertrauen auf. In der Zugabe gibt es noch eine gehörige Portion Traurigkeit und Zusammenhalt. Der nach Identifikation suchende Leser kann sich also beruhigt zurücklehnen: Er erhält ein reichhaltiges Angebot, das sich jeglichen Altersgrenzen entzieht.

Die Stimmung, die Herrndorf kreiert, lässt sich beinahe als romantisch bezeichnen. Zwei Jungs in den Weiten der Natur und auf der Straße. Mit dem Zusammenhalt als höchste Tugend und gelegentlich philosophisch angehauchten Gesprächen kämpfen sie gegen den Rest der Welt. Schnell müssen sie jedoch erkennen, dass dieser Rest der Welt nicht immer so grausam ist wie in ihrer Vorstellung. Immer wieder wird ihnen in brenzligen Situationen eine helfende Hand gereicht, sodass Maik am Ende der Erzählung feststellt: „Der Mensch ist schlecht. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war.“ Dieser Eindruck rührt und ist im Übrigen nicht der einzige Moment in Tschick, bei dem die Frage aufkommt, ob gerade Tränen oder Lachen das geeignete Ausdrucksmittel für die Gefühle sind, die hervorgerufen werden.

Das Erzähltempo in Herrndorfs Roman ist rasant. Es passiert viel auf dieser Fahrt durch den Osten Deutschlands, sodass man gelegentlich sogar die Befürchtung hat, die beiden Jungs könnten einen auf dem nächsten Rastplatz vergessen. Das Schöne ist, dass all das Beschriebene, all die Hürden und all die Gespräche durch die Brille eines Jugendlichen nochmals um einiges aufregender erscheinen. Herrndorf versteht es, eine Spannung zu kreieren, die den Leser Wörter wie ‚megakacke‘, ‚endbescheuert‘ oder ‚strahlkotzen‘ nicht als Stolpersteine wahrnehmen lässt. Sehr schnell findet man es einfach nur ‚endgeil‘, auch einer dieser ‚Proleten auf Raketen‘ sein zu dürfen, und hofft wie sie, dass die Straße gen Horizont vielleicht doch niemals enden wird.

(von Jennifer Sprodowsky)

Zum Autor
Wolfgang Herrndorf wurde 1965 in Hamburg geboren und lebt derzeit in Berlin. Er studierte Malerei in Nürnberg und arbeitete als Illustrator bspw. für die Titanic. Herrndorf debütierte 2002 mit dem Roman In Plüschgewittern. 2004 war er Teilnehmer des Ingeborg-Bachmann-Preises, wo er den Kelag-Publikumspreis gewann. Nach dem 2007 veröffentlichten Erzählband Diesseits des Van-Allen-Gürtels, erschien 2010 der Roman Tschick.


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