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Wolfgang Herrndorf | Sand 

Rowohlt 2011
480 Seiten
19,95 Euro
ISBN: 978-3-87134-734-4

von Johannes Rotter | Download

Versuche, die Handlung von Wolfgang Herrndorfs neuem Roman Sand in einigen Sätzen wiederzugeben, scheinen schon im Voraus zum Scheitern verurteilt: August 1972 am Rande der Sahara, eine Hippie-Kommune, ein unfähiges Kommissariat, Ganoven und Mörder, eine amerikanische Vertreterin für Kosmetika mit der Aura eines weiblichen James Bonds und ein Protagonist ohne Erinnerung, dafür aber mit umso mehr Pech. Und alle sind sie auf der Suche nach Etwas, das der Mann ohne Gedächtnis – später der Einfachheit halber Carl genannt – vergessen hat.

Eines lässt sich jedoch schnell sagen: Das geschilderte Nordafrika, in dem der sporadisch auftauchende Ich-Erzähler im August 1972 selbst einen Urlaub verbringt, ist nicht der Welt der Club Méditerranée und Hochglanz-Agenten-Filmen entnommen. Dieses Nordafrika ist staubig, schmutzig und vor allem gefährlich – gefährlich gerade auch für Unschuldige. Aber wer ist unschuldig, wer sind die Guten, wenn die Erinnerung an das Leben davor fehlt? Armut und Trostlosigkeit tauchen immer wieder wie nebenbei auf und entziehen der Handlung um Agenten und Geheimdienste jeglichen Glanz. Man sieht vielleicht schon, es sind wahrlich nicht die bunten Seiten des Lebens, die behandelt werden. Durch den ganzen Roman zieht sich eine Sinn- und Ausweglosigkeit – man kann auch sagen Nihilismus –, die die Lektüre nicht immer einfach macht. Auch das Setting ist dadurch gekennzeichnet, dass Touristen- und Hippie-Idylle nicht immer einer genaueren Betrachtung Stand halten können. Die Menschen haben zwei Möglichkeiten: sich auf die Verbrechen einlassen oder zu deren Opfer werden. Wobei der erste Weg natürlich auch nicht besser endet.

Geschrieben ist das Ganze in einer atemlosen Sprache. Kurze Sätze. Und viele Hauptsätze. Die Handlung, die selbst mit dem letzten Kapitel noch nicht zu Ende erzählt scheint, wird immer vorangetrieben, für ein Innehalten bleibt keine Zeit. Beinahe ein Zuviel an Plot, denn es fällt nicht immer leicht, die Übersicht zu behalten über Figuren, Orte und Handlungsstränge. Aber das passt zum Thriller und Agentenroman, selten weiß man mehr als der Mann ohne Erinnerung im Zentrum des Romans. Und welchen Zweck hätten die Geheimdienste dieser Welt, wenn sie für Ordnung und Übersichtlichkeit sorgten? Auch das Gehetzte des Stils entspricht jenem Genre und sorgt so für eine diffuse Spannung, die die einzelnen Stränge des Romans zusammenhalten kann und zur notwendigen Aufmerksamkeit verhelfen sollte. So macht doch das Überbordende des Plots den Hauptreiz von Sand aus und damit die Verblüffung darüber, wie plausibel doch alles noch erscheint. Ein kleiner Vorgeschmack gefällig?

„Die Fakten sind: Ich greife einen Mann an einer Tankstelle mitten in der Wüste auf, der behauptet, sein Gedächtnis verloren zu haben, der behauptet nichts weiter zu besitzen als das, was er am Leibe trägt, plus die verkokelte Ecke eines Ausweises. Und wo kommen die auf einmal her? Von einer Leiche in der Wüste, einer Leiche mit, ich zitiere, Menjou-Bärtchen, über die er zufällig mitten in den Dünen gestolpert ist und ohne diesen Ausweisen irgendwie Beachtung geschenkt zu haben. Der Mann, der mir jeden Abend sein übervolle Herz ausgeschüttet – das hat er vergessen. Wie wahrscheinlich ist das?“

Die Dialoge bilden einen angenehmen und notwendigen Gegensatz zu der rasanten Erzählweise und der bedrückenden Grundstimmung. Sie sind ausführlich, humorvoll und pointiert und drängen so die Sinnlosigkeit in den Hintergrund. Freilich: Zu sagen, die Dialoge machen den Roman erträglich, ist zwar richtig, wirft aber ein falsches, weil negatives Licht auf Sand, immerhin erleichtern sie die Lektüre durch ihre Unterhaltsamkeit ungemein. Nicht der Roman ist hoffnungslos, sondern die in ihm geschilderte Welt.

Dass der Leser nicht erdrückt wird, dafür sorgt neben den Dialogen auch der Humor, der sich immer wieder leise in die Schilderungen hineinschleicht. Mit dem vielbemühten lachenden und weinenden Auge folgt man dem bemitleidenswerten Protagonisten, wie er von einem Schlamassel in den nächsten tappt, nichts zu lernen scheint und die gleichen Fehler noch einmal begeht. Schadenfreude ist ja bekanntlich die schönste Freude und die Odyssee des Protagonisten entwickelt dadurch einen enormen Witz. Gemeinsam mit den Klischees, die man aus anderen Werken des Genres kennt – die vertrottelten Polizisten, die mehr an Bordellbesuchen interessiert sind als an der Aufklärung von Fällen, die korrupten Gerichte und Ministerien, wilde Verfolgungsjagden, unfähige Agenten – entsteht so auch eine unterhaltsame Parodie eines Thrillers. Eine Parodie, die aber auch immer Thriller bleibt, dabei nie ins Lachhafte oder Lächerliche umschlägt, selten an Spannung verliert und den Leser durch einen ganz eigenen Ton zu fesseln versteht.

Über den Autor:
Wolfgang Herrndorf wurde 1965 in Hamburg geboren. Er studierte Malerei in Nürnberg und war als Illustrator unter anderem für die Titanic tätig. 2002 erschien sein erster Roman In Plüschgewittern, es folgten 2007 der Erzählband Diesseits des Van-Allen-Gürtels und 2010 der Roman Tschick. Herrndorf erhielt 2004 im Rahmen des Ingeborg-Bachmann-Wettbewerbs den Kelag-Publikumspreis, 2011 den Deutschen Jugendliteraturpreis und 2012 den Preis der Leipziger Buchmesse für Sand. Auf seiner Website betreibt er außerdem den Blog Arbeit und Struktur.

(Johannes Rotter)


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