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John von Düffel | Wassererzählungen 

DuMont 2014
256 Seiten
19,99 Euro
ISBN 9783832197445

von Kai Bremer  | Download

Untiefen – John von Düffels Wassererzählungen

John von Düffel hat Gießen zuletzt zweimal besucht. Im Mai 2013 hat er anlässlich der Veranstaltungsreihe zum 200. Geburtstag von Georg Büchner, die das LZG zusammen mit dem Institut für Germanistik durchgeführt hat, hier gelesen. Damals stellte er Auszüge aus seinem komischen Künstlerroman Goethe ruft an vor, auch las er die Erzählung Ostsee. In diesem Frühsommer nun hat er das Buch Geschichten vom Sterben in Gießen vorgestellt. Diese hat er zusammen mit der Palliativmedizinerin Petra Anwar geschrieben, sie geben ein beeindruckendes Plädoyer für das medizinisch begleitete Sterben zuhause ab. Wer John von Düffel einmal etwa auf einer Lesung erlebt hat, wundert sich immer wieder über sein Leistungspensum. Er ist ja nicht ‚nur’ Verfasser zahlreicher Romane und Geschichten, sondern zudem einer der wichtigsten Dramaturgen der Gegenwart (und ‚nebenbei’ noch Hörspiel-Autor, Dramatiker und Dozent für szenisches Schreiben in Berlin). Dass bei von Düffel diese schriftstellerische Kondition mit physischer Ausdauer einhergeht, ahnt jeder, der von seiner Schwimm-Leidenschaft weiß. Sommers wie winters zieht er seine Bahnen, bevorzugt in der freien Natur.

So überrascht es kaum, dass Schwimmen und Wasser zwei wesentliche Motive sind, die zahlreiche seiner Werke durchziehen, ihnen teilweise sogar den Titel gegeben haben. Vielleicht hat der eine oder andere Leser dieser Besprechung von Düffels Lesung der Erzählung Ostsee im Foyer des Gießener Rathauses vor einem Jahr gehört und erinnert sich an die Schilderung eines Ich, das routiniert mitten im Winter in die eiskalte Ostsee steigt, um schwimmend die Grenzen des eigenen Körpers zu erproben.

Von Düffels neustes Buch, Wassererzählungen, eröffnet eben mit dieser Geschichte. Das ist klug disponiert, denn so kann der Leser, der gut mit von Düffel vertraut ist, gleich einen alten Bekannten wiedertreffen: Der Stil der Erzählung ist gewohnt präzise, klar und so angenehm eingängig, dass man immer konzentriert bei der Sache bleibt. Schließlich wird man auch noch durch einen wunderbaren Perspektivwechsel beglückt. Und eben deswegen ist die Erzählung auch für die Leser, die erstmals ein Buch von von Düffel in den Händen halten, ein idealer Einstieg: Man ist gleich ganz bei diesem Autor.

Das Buch beginnt also ebenso zuverlässig und unspektakulär, wie es sein Titel verheißt und wie man es von von Düffel erwartet. Doch das ändert sich schon mit der zweiten Geschichte, Das Spiel ohne auf die Erde zu kommen. Denn in dieser passiert etwas, was für von Düffels Erzählen alles andere als typisch ist. Geschildert wird die Begegnung einer Frau mit einem Kind, das sie immer tiefer in den Wald lockt, so dass die Grenzen zum Märchen immer mehr verschoben werden, bis die Geschichte schließlich auf brutale Weise wieder in der Realität geerdet wird. Wasser kommt – wie es der Titel quasi verlangt – natürlich auch vor, doch scheint es anders als in Ostsee viel weniger wesentlich.

Die folgenden Geschichten sind mal pointiert, mal skurril, mal phantastisch, mal kafkaesk. Die Perspektiven, aus denen erzählt wird, variieren, so dass jede Geschichte eine neue Herausforderung mit sich bringt. Das Wunder dieser Wassererzählungen ist dabei, dass man zwar zunächst durch diesen Wechsel weg von dem, was typisch ist für von Düffel, ein wenig irritiert ist. Doch allmählich entwickelt das Buch eine Faszination, die sich immer noch steigert. Das liegt daran, dass die Vielfalt des Erzählens und die Phantasie, die uns hier in den Geschichten begegnet, in bester Tradition einer Romantik stehen, die die Idylle zwar kennt, diese aber nicht als Sehnsuchtsort betrachtet, sondern sie vielmehr fürchtet, weil sich in ihr ungeahnte Untiefen auftun.

Die Wassererzählungen präsentieren uns also einen Autor, der ein beeindruckendes Plädoyer für die Macht der Literatur in der Mitte der Gegenwart abliefert. Denn so vielfältig die Geschichten auch sind, sie sind fast ausnahmslos durch ein alltägliches Setting gerahmt, so dass uns beim Lesen die Untiefen unserer Realität und die Grenzen unserer Wahrnehmung vorgeführt werden.

Vielleicht ist das sogar der eigentliche Sinn des Titels: Wassererzählung – das klingt dem ersten Eindruck nach schlicht und unprätentiös, wie eine Zusammenfassung des bisherigen erzählerischen Schaffens von Düffels. Erst nach der Lektüre erschließt sich jedoch der eigentliche Sinn dieses Titels. Es sind weniger Erzählungen von Wasser als vielmehr Erzählungen wie Wasser: Wir können uns in ihnen wohlfühlen, sie genießen oder als Herausforderung begreifen. Aber in dem Moment, da wir Halt bedürfen, ist nichts zu greifen, da fehlt der Stand. Es bleibt nur noch die Möglichkeit, sich ihnen ganz hinzugeben – vielleicht entlassen sie uns dann schließlich ans rettende Land, vielleicht aber gehen wir auch in ihnen unter.

von Kai Bremer


Über den Autor
John von Düffel wurde 1966 in Göttingen geboren, er arbeitet als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin und ist Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste.


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