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Volker Kutscher | Goldstein 

Roman
Kiepenheuer & Witsch 2010
573 Seiten
19.95 Euro
ISBN 978-3462042382

von Jennifer Sprodowsky | Download

„Wir haben es nun mal nicht gern, wenn einer wie Sie in unserer Stadt unterwegs ist. Das hier ist nicht Chicago.“

Nein, es ist nicht Chicago, aber dafür Berlin im Jahre 1931, in das Volker Kutscher seinen Protagonisten, den Kriminalkommissar Gereon Rath, auf Verbrecherjagd schickt. Der, der sich in diesem Berlin unerwünscht herumtreibt und den es von Rath zu beschatten gilt, ist Abraham Goldstein, ein berüchtigter jüdischer Auftragskiller aus der New Yorker Unterwelt. Dieser ‚Handsome Abe’ hat sich in dem mehr und mehr antisemitischen Berlin bisher zwar noch nichts zu Schulden kommen lassen, doch soll genau dies auch so bleiben. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kommt es jedoch zu Raubüberfällen und Morden in der Stadt. Im KaDeWe werden Uhren und Schmuck gestohlen und bei der versuchten Festnahme stürzt einer der Täter aus dem Kaufhaus in die Tiefe und stirbt. Ein Schupo wird verdächtigt, bei diesem Sturz gewalttätig nachgeholfen zu haben. Während die Ermittlungen auf Hochtouren laufen, ärgert sich Kommissar Rath immer mehr, dass er seine Zeit gelangweilt auf Wachposten in Hotels totschlagen muss. Als ihn Marlow, sein einflussreicher Kontakt zur Berliner Unterwelt, beauftragt, ihm beim Aufklären eines Vermisstenfalles zur Seite zu stehen, ist dies trotz möglicher Gewissenskonflikte immerhin eine Abwechslung für Rath. Was er zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht zu ahnen vermag ist, dass Goldstein längst einen Weg gefunden hat, aus dem bewachten Hotelzimmer zu entkommen, und nun bewaffnet durch die Straßen von Berlin zieht.

Es folgen weitere Morde und die Antwort auf die Frage, wer gegen wen und für wen agiert, wird immer komplexer. Die Ausschreitungen zwischen SA und Kommunisten verschärfen und vermehren sich. Im Untergrund bewegen sich die Ringvereine der Berolina und Nordpiraten, beide immer darauf bedacht, möglichst viel Macht zu gewinnen und sich gegenseitig zu zerstören. Rath steht mit seinen offiziellen und privaten Ermittlungen oftmals an der Grenze zwischen Legalität und Illegalität. Er verschweigt, greift vor und gerät immer wieder mit seiner Freundin Charly aneinander. Auch sie ist als Undercover-Ermittlerin in die Berliner Mordverfahren involviert.

Kenner/innen der Kriminalromane Kutschers dürften mit Rath, Charly und vielen anderen auf bekannte Charaktere stoßen. „Goldstein“ ist der durchaus gelungene dritte Roman aus Kutschers Berlin-Reihe. Der erste („Der nasse Fisch“) spielt 1929 und handelt von Raths erstem Fall nach seinem Umzug von Köln nach Berlin. Darauf folgt der Band „Der stumme Tod“, in welchem Rath sich 1930 mit seinen Ermittlungen in die Berliner Filmindustrie begibt. Allesamt entwerfen ein eindrucksvolles Bild vom Berlin am Ende der Weimarer Republik. Dies ist ein Berlin, in dem unglaublich viel Bewegung steckt. Ein Berlin, das das moderne Lebensgefühl der Goldenen Zwanziger in sich trägt, und dabei schon längst auf die Katastrophe durch die Nationalsozialisten zusteuert.

Kutscher beweist bei dieser Darstellung einen hohen Grad an historischer Korrektheit, was sich bspw. an den Straßennamen der damaligen Zeit festmachen lässt. Diese aus intensiver Recherche entstandene Genauigkeit verbindet er mit den fiktiven Kriminalabenteuern des Kommissar Rath. Er lässt die Historie mit der Fiktion Hand in Hand gehen. Kutscher entfernt sich mit seinen Entwürfen von gängigen Binaritäten. Es gibt kein genau definiertes Gut und Böse und es gibt erst recht keine gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich einem Ausschlag dieses Pendels zuordnen ließen. So ist Gereon Rath ein Kommissar, der sporadisch auch geschäftliche Kontakte zur Unterwelt pflegt. Er ist ein Kommissar, der gelegentlich die Grenzen der Gesetze überschreitet und trotzdem nach Gerechtigkeit strebt. Die Fassade der Polizei, die mit Schutz und Loyalität bepinselt ist, bröckelt im Laufe des Romans mehr und mehr, wohingegen diejenigen, die zunächst als zu fürchtende Verbrecher eingeführt wurden, sich immer wieder im Licht der Humanität zeigen dürfen.

Diese Vermischung des vermeintlich Guten mit dem vermeintlich Bösen steht für ein Aufeinandertreffen von Welten, das als modellhaft für den Roman gesehen werden kann. Auch Kutschers Erzählstil zeichnet sich durch ein gekonntes Zusammenführen von verschiedenen Strängen aus, das oft überraschende Resultate zeitigt. Was anfangs wie eine wahllose Nebeneinanderstellung von Episoden wirken mag, lässt Kutscher nach und nach Berührungspunkte finden, um sich dann am Ende in einer Geschichte aufzulösen. Die Informationen, die an den Leser herangetragen werden, sind nie zu viel und nie zu wenig, wodurch eine Spannung entsteht, die Kutscher über knapp 600 Seiten aufrecht erhält.

Selbst zuallerletzt, nachdem zwar alle Unklarheiten bereinigt wurden und nachdem bewiesen werden konnte, dass Berlin in Sachen Verbrecherjagd durchaus mit Chicago, New York und anderen Städten der USA mithalten kann, geht Kutscher in seinem Plot noch einen Schritt weiter und hinterlässt den Leser/die Leserin mit einem Cliffhanger, der große Vorfreude auf das nächste Abenteuer von Kommissar Rath auslöst…


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