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Maja Haderlap | Engel des Vergessens 

Roman
Wallstein 2011
250 Seiten
18.90 Euro
ISBN 978-3835309531

von Chris Krizsak | Download

Das Einmaleins des Vergessens

Die diesjährige Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Maja Haderlap legt mit Engel des Vergessens einen Familienroman vor, der sich mit der bislang vernachlässigten Geschichte der Kärntner Slowenen während des Zweiten Weltkriegs befasst. Erzählt wird der Roman aus der Perspektive eines kleinen Mädchens, was den Schluss nahelegt, die Autorin verarbeite hier ihre eigene Familiengeschichte. Es sind Erinnerungen an eine Kindheit in den Kärntner Bergen, an den Geruch von geselchtem Fleisch und die allumfassende Präsenz der Großmutter, die überlebensgroß und wie eine Schamanin den Zusammenhalt der Familie beherrscht. Zeitlich ist das Ganze etwa in den sechziger Jahren angesiedelt, doch was hier zum Leben erweckt wird, ist eine verlorene Welt, die viel weiter von der Wirklichkeit entfernt scheint. Zwar ist der Krieg vorbei, aber in den Köpfen der slowenischen Minderheit, zu der die Familie gehört, tobt immer noch der Kampf mit den Gespenstern der Vergangenheit, der eine Rückkehr in die Normalität des Alltags unmöglich macht.

Einzelne, durch Absätze voneinander getrennte Passagen, die zwar die chronologische Ordnung wahren, inhaltlich jedoch so zerstückelt daherkommen, dass sich die Geschichte der Familie erst nach und nach wie ein Mosaik zusammenfügt, bilden das bestimmende Strukturelement des Romans. Das korrespondiert mit der kindlichen Erzählhaltung, die dem Leser das Schicksal der verschiedenen Familienangehörigen in stückchenweise präsentierten Erinnerungseinheiten offenbart. Was sich anfangs wie ein konventioneller Generationenkonflikt zwischen Eltern und Kind darstellt, bei dem die Großmutter zur Lebensinsel wird, weitet sich unaufhörlich in ein kollektives Trauma aus. Dann prasseln die Namen der Vernichtungs- und Konzentrationslager auf den Leser nieder: Ravensbrück. Mauthausen. Natzweiler. Gemeinsam mit der Erzählerin, die mit fortlaufender Entwicklung immer mehr Zusammenhänge begreift, erfährt der Leser, welche Schrecken die Familie erlebt und überlebt hat. Der Großvater schließt sich den Partisanen im Wald an, woraufhin die Großmutter aus Rache ins KZ deportiert wird. Der Vater wird als zwölfjähriger Junge von Hitlersympathisanten brutal gefoltert, damit er den Aufenthaltsort der Partisanen preisgibt, und selbst nach dem Krieg schwelt der Hass weiter.

Es sind zerstörte Charaktere, die hier gezeigt werden, die den Gedächtnisplunder von acht Jahren Naziherrschaft in Österreich mit sich herumschleppen, der sie nach wie vor gefangen hält und der sie nicht vergessen lässt. Um dieser Gefangenschaft zu entkommen, versucht die Erzählerin eine Sprache zu finden, in der das Leid ihrer Angehörigen vermittelbar wird. Denn sie können ihre Erlebnisse nicht selbst kommunizieren, ohne irgendwann der Sprachlosigkeit anheim zu fallen: Der Großmutter fehlen die Worte, um das in Ravensbrück erlebte Grauen zu artikulieren, ihr Tagebuch über anderthalb Jahre Überlebenskampf im Konzentrationslager füllt lediglich drei Seiten. Derartige Reflexionen über die Erzählbarkeit von nicht Erzählbarem durchziehen den ganzen Roman und erreichen bisweilen eine entwaffnende Eindringlichkeit, in der die Sätze zur Membran werden, die die Außenwelt so weit abwehrt, dass erfolgreich über sie gesprochen werden kann. Aus demselben Grund wählt die Erzählerin auch ihre Zweitsprache Deutsch als ihr bevorzugtes Ausdrucksmittel, da sie ihr genügend Distanz zum Geschehenen verschafft, um die schmerzhaften Erinnerungen in Literatur umzuformen.

Maja Haderlap ist ein beeindruckender Roman gelungen, der manchmal auf Kosten der Handlung ein wenig zu sehr ins Reflexive abdriftet, was jedoch durch die meisterhafte sprachliche Gestaltung mehr als wettgemacht wird. Sehr empfehlenswert.

Die Autorin
Maja Haderlap, geb. 1961 in Eisenkappel / Železna Kapla (Österreich), studierte Theaterwissenschaft und Germanistik an der Universität Wien. Sie war von 1992 bis 2007 Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt und unterrichtet regelmäßig am Institut für Angewandte Kulturwissenschaft der Alpen-Adria-Universität in Klagenfurt. Sie veröffentlichte Gedichtbände auf Slowenisch und Deutsch sowie Übersetzungen aus dem Slowenischen. "Engel des Vergessens" ist ihr Romandebüt.

(von Chris Krizsak)


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