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Thomas Hettche | Die Liebe der Väter 

Roman
Kiepenheuer & Witsch 2010
224 Seiten
16.95 Euro
ISBN 978-3462041873

von Lars Meuser | Download

Der Plot von Thomas Hettches neuem Roman ist schnell erzählt: Peter ist Verlagsvertreter und Vater der dreizehnjährigen Annika. Die beiden wollen gemeinsam mit Bekannten von Peter Silvester auf Sylt feiern. Mit dem Überqueren des Hindenburgdamms gleich zu Beginn wird der Leser aus der Welt heraus in die ungewohnt melancholische Atmosphäre der Insel hineingenommen. An diesem hermetischen Schauplatz sieht sich Peter vor die schwierige Aufgabe gestellt, das Verhältnis zu seiner Tochter neu zu verhandeln. Erlebnisse in der Gegenwart werden konterkariert mit Peters Kindheitserinnerungen an seine Sommer auf Sylt, als seine Mutter dort als Buchhändlerin arbeitete. Vor deren Hintergrund wirkt die Gegenwart umso trostloser, denn das Verhältnis zwischen Peter und Annika ist nachdrücklich belastet durch das Verhalten von Peters Ex Ines, die es geschickt anzustellen weiß, ihm einerseits das Geld aus der Tasche zu ziehen und ihn andererseits komplett von der Erziehung Annikas auszunehmen, ja, ihn gar als Rabenvater dastehen zu lassen. Zumindest erfährt man das vermittelt durch die Perspektive Peters der hier als erinnernder und erlebender Ich-Erzähler zugleich auftritt.

Was man zudem über die Nicht-Erziehung Annikas durch Ines erfährt, ist durch die Erzählperspektive nicht nur tendenziös vermittelt, sondern auch so extrem und so unglaublich, dass selbst ein Michel Houllebecque angewidert seinen Füllfederhalter fallen lassen würde: Ins Abstruse gewendete Waldorf-Erziehung und eine ganz besondere Pilzcremesuppe sind da nur die Spitze des Eisbergs. Noch irritierender wird die ganze Angelegenheit aber erst dadurch, dass Peter das alles nicht gegen Ines geltend machen kann oder will. An solchen Punkten wird denn auch deutlich wie unzuverlässig Peter nicht nur als Erzähler, sondern auch und vor allem als Vater ist. Welche von den Anschuldigungen gegen Ines letztlich der Wahrheit entsprechen, kann beim besten Willen nicht beurteilt werden und das muss es auch nicht. Wichtiger sind Peters vereinzelte Schuldeingeständnisse, anhand derer sich abzeichnet, dass ihm seine Tochter über lange Zeit nicht wichtig genug gewesen ist. Denn durch sein ständiges Kleinbeigeben gegenüber Ines trägt er letztlich auch immer eine Mitschuld am konfliktträchtigen Verhältnis zu seiner Tochter. Hier auf Sylt und an Sylvester entlädt sich schließlich sein Frust über die Fehler von Ines und seine eigenen. Leider am falschen Ort. Leider im falschen Moment. Leider gegen Annika.

Ab diesem Zeitpunkt steht Peter im Kreuzfeuer der Kritik: Von allen Seiten werden besserwisserische Tipps zum Vatersein und zur Erziehung auf ihn abgefeuert. Doch wem der Beteiligten steht es zu, über Peter den Stab zu brechen? Wenn man sich die übrigen Figuren anschaut, eigentlich niemandem so recht. In den Figurendarstellungen liegt gewiss eine Stärke des Romans: So unglaublich unsympathische Charaktere findet man in einer so hohen Dichte eher selten. Ebenso einen über weite Strecken derart lethargischen Helden, dem man auf lange Sicht „Geschieht dir recht!“ zurufen möchte.

Stilistisch fallen an Die Liebe der Väter daneben auch die novellistischen Tendenzen auf: Neben dem Motiv der „Wilden Jagd“ und Annikas Schauermärchen, die sich durch das gesamte Geschehen ziehen, sind da vor allem die Einheit von Zeit und Ort oder das kleine Personal zu nennen. Das alles kombiniert Hettche mit einem hohen Detailrealismus, der selbst bis in die Tiefen von Annikas iPod hineinwirkt und belegt, dass sich der Autor gekonnt zwischen Chartstürmern und Feuilleton zu bewegen weiß.

Was aber bleibt unterm Strich? Hettche spricht hier ein altbekanntes Thema gesellschaftlicher Realität an, dieses Mal vielleicht aus einer eher ungewohnten Perspektive, was ihm über weite Strecken auch beeindruckend gelingt. Denn auch wenn er Motiv der bösen (Stief-)Mutter Ines nahezu ins Absurde abdriften lässt, markiert er Peter ihm Gegenzug so deutlich als Mitschuldigen an dieser Erziehungsmisere, dass erkennbar wird, was Hettche gewollt hat, als er zusammen mit anderen deutschen Literaten den Relevanten Realismus proklamiert hat. Der endet nämlich nicht kurz hinter detailverliebten Beschreibungen, die das Erzählte in einen realistischen Kontext betten. Vielmehr inszeniert er ein großes, ein gesellschaftlich überaus relevantes Thema anhand eines Einzelschicksals. Dabei verzettelt er sich nicht mit der Auflösung des Konflikts – und hier ist nicht Ines‘ irritierender Lebenswandel gemeint – in den Extremen, sondern verbleibt dort, wo die Wahrheit in den meisten Fällen zu finden ist, nämlich irgendwo dazwischen. Das mag den Einen oder den Anderen abschrecken oder auch anöden, ist aber nicht weiter schlimm, denn mit Die Liebe der Väter ist Hettche dennoch – oder gerade deswegen – ein kurzweiliger und absolut lesenswerter Roman gelungen.

(von Lars Meuser)

Zum Autor:
Thomas Hettche wurde 1964 in Treis an der Lumda geboren und hat in Frankfurt Philosophie und Germanistik studiert. Er war Juror beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt und hat selbst zahlreiche Literaturpreise gewonnen. 1989 debütierter er mit dem Roman Ludwig muß sterben. Nach zahlreichen weiteren Veröffentlichungen, u.a. Woraus wir gemacht sind (2006), erschien im Sommer 2010 sein aktueller Roman Die Liebe der Väter bei Kiepenheuer und Witsch, der im gleichen Jahr in die Longlist des Deutschen Buchpreises aufgenommen wurde.


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