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John Boyne | Das späte Geständnis des Tristan Sadler 

Roman
Arche 2012
336 Seiten
19.95 Euro
ISBN 3716026646

von Sascha Feuchert | Download

John Boyne ist das, was man einen „populären Autor“ nennt: Über 5 Millionen Mal hat sich sein „Junge im gestreiften Pyjama“ weltweit verkauft und dabei heftige Kontroversen ausgelöst, denn das Märchen um den ahnungslosen Sohn eines KZ-Kommandanten hat seinen Siegeszug auch in den Schulen angetreten und könnte dabei sein, das Bild von den Lagern zu prägen und – wie vielfach befürchtet wird – zu verharmlosen. Boyne schlägt denn auch in der Kritik seither einiges an Skepsis entgegen, er steht im Verdacht, ein Weichspüler harter historischer Fakten zu sein. Auch die Reaktionen auf seinen neuen Roman, dessen deutsche Ausgabe auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt wurde, waren im englischsprachigen Raum eher verhalten: Vom liberalen „Guardian“ über den konservativen „Daily Telegraph“ bis zum rechtslastigen „Daily Express“ hatte man so seine Probleme mit dem „späten Geständnis des Tristan Sadler“ (im Original: „The Absolutist“), das die Geschichte eines homosexuellen Soldaten im Ersten Weltkrieg erzählt. Der Grund für die Zurückhaltung dürfte neben Boynes früherem Erfolgstitel auch der Tatsache geschuldet sein, dass gerade in Großbritannien der Erste Weltkrieg einen viel größeren Raum im kulturellen Gedächtnis einnimmt, als es hierzulande der Fall ist: Am 11. November, der 1918 das offizielle Ende des Ersten Weltkrieges bedeutete, begeht das Commonwealth seinen „Remembrance Day“ (vergleichbar mit dem Volkstrauertag), um seiner gefallenen Soldaten zu gedenken. Bis heute bleibt dabei ein zentraler Bezugspunkt die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, nicht zuletzt an der „Poppy“ erkennbar, der Mohnblume, die zum zentralen Symbol geworden ist, weil sie auf den schlimmsten Schlachtfeldern in Flandern blühte. Wer in Großbritannien zu „WW 1“ erzählt, muss also mit kritischster Prüfung rechnen – und das besonders, wenn er Tabuthemen anfasst: Tristan, ein 17-jähriger Freiwilliger, verliebt sich in seinen etwas älteren Kameraden Will, der seine Gefühle offenbar erwidert, sich dafür aber verachtet. Noch bevor sich beide in die Schützengräben an der Front begeben, ist es Will, der Tristan verführt und ihn danach hasserfüllt ignoriert. In Frankreich wiederholt sich das: Wieder ist es Will, der die Initiative ergreift – und anschließend sich, seine Gefühle und seinen Freund verleugnet. Die Beziehung der beiden wird schließlich existentiell bedrohlich, als Will die sinnlose Gewalt nicht mehr aushält und sich weigert weiterzukämpfen. Er erklärt sich zum Absolutisten, einem Totalverweigerer, der auch nicht bereit ist, Hilfsdienste an der Front zu versehen. Ausgerechnet Tristan bittet er um Unterstützung…

Auf einer zweiten Ebene erzählt der Roman, wie Tristan nach dem Krieg Wills Schwester Marian über die Wahrheit aufklären will, wie ihr Bruder zu Tode gekommen ist. Lange zögert er, ihr alles zu offenbaren, was er weiß – schließlich tut er es doch und enthüllt dabei auch sein eigenes entsetzliches Geheimnis. Noch einmal werden sich die beiden, die nach diesen Geständnissen für 60 lange Jahre nicht mehr miteinander reden, sehen: Am Ende ihres Lebens sitzen sie sich im England Margaret Thatchers in einer Hotel-Bar gegenüber.

John Boynes Roman ist sicher nicht frei von Schwächen, einige Dialoge wirken so hölzern, dass er problemlos so manchem viktorianischen Vorgänger Konkurrenz machen könnte, auch Kitsch-frei ist er sicher nicht. Und doch: Dem Erfolgsautor ist eine Erzählung gelungen, die einem lange nachgeht und die trotz ihrer Diskretion im Hinblick auf die Schrecken des Krieges viel über diesen erzählt.

(von Sascha Feuchert)


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