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Andreas Maier | Das Haus 

Suhrkamp Verlag 2011
164 Seiten
17,95 Euro
ISBN: 978-3-518-42266-3

von Lars Meuser | Download

45 Minuten.

Das ist eine kurze Phase der Ruhe vor der älteren Schwester, bevor sie aus der Schule zurückkommt. Sie tyrannisiert Andreas, dessen älteren Bruder, die Eltern, ja, eigentlich alle Menschen in ihrem Umfeld. Sie zickt zu jeder Mahlzeit, heischt allenthalben nach Aufmerksamkeit. Sie macht Andreas zum Anschauungs- und Experimentierobjekt ihrer Mädchenclique. Und sie zerstört die Modellbausätze, die Andreas Bruder in wochenlanger Kleinstarbeit im Bastelkeller erschafft. Jener Bastelkeller ist einer von Andreas‘ Rückzugsorten. Hier, zwischen Kampffliegermodellen und für den Winter einquartierten Pflanzen fühlt er sich wohl, genießt die paradiesische Ruhe und erschafft sich eigene kleine Welten.

45 Minuten.

Das ist auch die Zeitspanne vom Aufstehen über das Frühstück hin zum Antreten des Schulwegs. Andreas zählt die Minuten, hofft jedes Mal aufs Neue, dass die Zeit stehen geblieben und er damit von der Schulpflicht entbunden sein möge. Wie sollte er auch dorthin, unter Menschen gehen können, wo doch selbst das Frühstück mit der Familie für ihn schon einen extremen Kraftakt bedeutet. Was viele als einen sozialen Zwang bezeichnen würden, ist für ihn eine soziale Qual. Der Kloß in seinem Hals hat schon jetzt eher die Größe eines mittelgroßen Felsbrockens. Andreas spricht kaum.

45 Minuten.

Das ist auch die Dauer einer Schulstunde. Immerhin bedeutet das weniger Hänseleien für Andreas; die gibt es dafür in den Pausen zur Genüge. Deswegen sondert er sich lieber von allen anderen ab, steht höchstens mal neben dem Aufsicht führenden Lehrer. Die Schulstunden verbringt er am liebsten neben Mädchen sitzend, denn die sind im Gegensatz zu den Jungs noch zu ertragen. Den Kindergarten hatte er noch erfolgreich verweigern können, indem er seinen Eltern den Suizid androhte, sollten sie ihn noch einmal dort hinbringen. Damals hatte er es nicht ausgehalten, dass all die anderen Kinder nach Regeln agierten, die ihm in ihrem Sinn völlig verschlossen blieben und es nach wie vor tun.

45 Minuten.

Sie sind es, die in verschiedenen Situationen das Leben von Andreas aus Bad Nauheim terminieren. Andreas ist der Ich-Erzähler in Andreas Maiers autobiographisch angehauchtem Roman „Das Haus“. Er wächst dort auf, wo auch Letztgenannter groß geworden ist, in eben jener Straße, in eben jenem Haus, zu eben jener Zeit Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre. Und nachdem eben jener Andreas sich im 2010 erschienenen Roman „Das Zimmer“ vornehmlich den Erinnerungen an seinen Onkel J. gewidmet hat, stellt er nun – erneut von seinem Arbeitszimmer in Bad Nauheim aus – sich selbst als Jungen im Alter zwischen drei und sechs Jahren in den Fokus. Dabei präsentiert er sich als Herr über seine erinnernde Erzählung, der in seiner Kindheit gräbt, Gedächtnislücken imaginierend auffüllt, Zusammenhänge rekonstruiert, Anekdoten einwebt, all dies passend arrangiert und stets den Blick lenkt.

Methode und Ziel seines Schaffens ist dabei das, war er selbst als „Ortsumgehung“ bezeichnet. In einem groß angelegten Erinnerungsprojekt will er seine Herkunft und seine Heimat, die Orte seiner Erinnerung und letztlich sein ganzes Leben umgehen und erzählend in Ordnung bringen. Er nimmt den Leser mit auf diese Ortsumgehung und meidet konsequent den Zugang über die Durchfahrtsstraße. Im Wesentlichen wendet er sich zwei Erzählkomplexen zu. Den ersten, mit „Drinnen“ benannten, bildet die Zeit der Kindergartenverweigerung, die für ihn trotz aller Schikanen des menschlichen Lebens und Zusammenlebens eine fast paradiesische Bedeutung gewinnt. Hierin fühlt er sich seinem Onkel J. verbunden, auch wenn die beiden zu Lebzeiten mehr als nur das Alter trennte. Hingegen vollzieht der zweite Komplex „Draußen“ Andreas‘ Zeit in der Grundschule nach, in der er, als schweigsamer Sonderling gezeichnet, nur unter Aufbietung aller körperlichen und geistigen Kräfte seine Zeit im Umgang mit Menschen ertragen kann. Schutz vor der Welt bieten ihm nur einige wenige Menschen.

Vor allem in der zweiten Hälfte gewinnt „Das Haus“ an erzählerischer Intensität. Ein schlichter sprachlicher Stil gesellt sich zu verhaltenen erzähltechnischen Stilübungen: So wechselt der erinnernde Andreas mal vom Ich zum Du, mal vom Ich zum Er – all dies immer bedacht, dezent und kurzfristig – bis er schlussendlich wieder zum Ich zurückkehrt. Dies entspricht einer Direktheit und Unmittelbarkeit, die zu keiner Zeit effektheischend, sondern vielmehr unprätentiös daherkommt. Hier lassen sich deutliche Anklänge an Peter Kurzeck und Arnold Stadler feststellen. Und auch wenn der Einfluss beider auf Maiers insbesondere aktuelles Schaffen spürbar ist, schafft jener es doch, dem erinnernden Erzählen eine ganz eigene Nuancierung zu verleihen: „Vielleicht bin ich ganz anders aufgewachsen, als es die lieblichen Anekdoten erzählen“, vermutet Andreas schon recht früh. Diese Unsicherheit gibt er an den Leser weiter, indem er ihn das Geschehen aus der Ferne der Ortsumgehung betrachten lässt. Man vermag nicht zu entscheiden, wo genau die Grenzen zwischen erinnerter Realität und literarischer Fiktion verlaufen, wo Ironie endet und Ernst beginnt. Und genau dieser Kniff ist es auch, der „Das Haus“ seinen besonderen Reiz gibt und ihn zu einem bemerkenswerten Erinnerungsroman macht. Zwar werden für die Lektüre 45 Minuten nicht ausreichen, doch sei jede mehr hiermit empfohlen.

Zum Autor:
Andreas Maier wurde 1967 in Bad Nauheim geboren und lebt in Frankfurt am Main. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem sein Debüt Wäldchestag (2000), Kirillow (2005), Sanssouci (2009), die Kolumnensammlung „Onkel J. Heimatkunde“ (2010) und Das Zimmer (2010), für den er 2010 mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Das Haus bildet nach Das Zimmer den zweiten Teil seines auf elf Bänden angelegten Romanprojekts Ortsumgehung.


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