Navigation

Annika Scheffel | BEN 

Roman
kookbooks 2010
272 Seiten
19.90 Euro
ISBN 978-3937445403

von Jennifer Sprodowsky | Download

Ben. Ben ist mehr als Ben. Ben ist Benvolio Antonio Olivio Julio Toto Meo Ho sowie Protagonist und Namensgeber von Annika Scheffels Debütroman. Ben wird sich in Lea verlieben, doch er wird sie mehr lieben, als er sollte. Bei der vierten Begegnung wird sie sterben. Deshalb gilt es, genau dies zu verhindern, ein Zusammentreffen. Woher Ben das weiß? Er weiß es, das ist alles, was zählt, der allgegenwärtige Lea-Gedanke in seinem Leben.

Bens Nachname lautet Schmitt, genauso häufig wie uninteressant. Doch auf Ben wartet Größeres, deswegen die Vornamen. Der Sohn soll sie als Waffe gegen die Tristigkeit der Welt tragen, so Mutter und Vater Schmitt. Eine Verantwortung, die Ben schwer auf den Schultern liegt. Ein farbenfrohes Leben soll er führen und dazu noch aufpassen, dass er der einen Person, der einen großen Liebe, nie begegnet. Genau deswegen hat Ben sich seine eigene Welt aufgebaut. Zusammen mit seinem ebenso introvertierten und sensiblen Freund Tjorven lebt er in einer Wohnung, die für die beiden Tag für Tag neue und alte neurotische Hürden bereitstellt. Sie kämpfen gegen Wäscheständer, dunkle Flure sowie Türschlösser und stehen sich stets zur Seite, bis das Unausweichliche unausweichlich wird: Tjorven stellt Ben seine neue Freundin Lea vor; nach zwei zufälligen Zusammenstößen auf der Straße die dritte und damit finale Begegnung.

Ben begibt sich auf die Flucht, vor Lea und vor allem auch vor sich selbst. Er sucht zunächst Schutz in der vollkommenen Isolation. Von dort aus lässt Scheffel ihren Protagonisten in eine neue Welt eintreten. Durch den Spiegel gelangt er in eine Märchenwelt, in der die Grenzen von gut und böse verwischen, in der die Jahreszeiten durcheinanderwehen. Ben findet sich als auserwählter Held wieder, der auf den Weg geschickt wird, die Prinzessin zu retten. Er beweist Mut, erledigt die Aufgaben auf der Liste bis zum letzten Punkt, dann gibt er auf. Das ewig glückliche Ende des Märchens ist ihm suspekt und so nimmt Ben, der mittlerweile Olivio ist, lieber ein sicheres Scheitern kurz vor dem Ende in Kauf. „Der Held lebt nicht glücklich und zufrieden mit der Prinzessin, der König sorgt sich noch immer, der nächste Held muss kommen, muss richtig retten und den Sturm ein für alle Mal legen.“ Wie beim Tragen der kuriosen Namen wurde Ben auch dieses Mal nicht gefragt, ob er sich dieser Aufgabe annehmen möchte. Es ist so, weil es so ist, weil Lea sterben wird. Die Reise geht weiter und führt Ben durch seine Heimatstadt zum Meer, denn: „Alle Menschen wollen immer noch einmal das Meer sehen und wenn sie dann am Meer ankommen, gucken sie doch nur traurig. Das Meer ist da, wo die Krabben wohnen und wo die bei der Suche nach dem letzten besten Satz verstummten Menschen sitzen.“

Überhaupt ist einiges in Scheffels Roman so zu nehmen, wie es ist. Es gibt Grenzüberschreitungen im Badezimmer, in Plastiktüten gekleidete Frauen, mit der Post verschickte Marmelade sowie den lebenden Tod. Doch gerade darin liegt die Kunst des Romans: einen Raum zu schaffen, in dem Märchen neben der Realität, das Unmögliche neben dem Möglichen, Könige neben Postboten existieren dürfen. Ob Begegnungen stattfinden sollen oder dürfen, ist eine andere Frage. Auch sie wird nicht immer beantwortet. Fakt ist jedoch, dass viele Figuren Eingang in Scheffels Erzählung finden. Manche begegnen sich, obwohl sie sich nicht kennen, und manche kennen sich, obwohl sie sich nie begegnen.

Ein Marionettenspieler hält die Fäden in der Hand, gibt den Figuren Geschichten, lässt sie leben. Dieser Marionettenspieler ist Scheffels Erzählinstanz; in gewissen Welten allwissend, aber nicht anmaßend. Oftmals lässt er den Vorhang fallen, bevor der Leser damit rechnet, zieht ihn an Textstellen wieder hoch, wo der Leser es nicht erwartet. Die Bühne, auf der er seine Figuren tanzen lässt, ist aus Zärtlichkeit gebaut und so auch Scheffels Sätze. Jeder einzelne von ihnen zeugt von einem großen Empfinden, von lebensechter Poesie. Die 1983 geborene studierte Theaterwissenschaftlerin lässt ihre Leser spüren, dass es sich nicht lohnt, vor großen Gefühlen wegzulaufen, der Liebe entkommen zu wollen. Die Figuren des Romans sind auf wundersame Weise fürsorglich. Sie tragen Verantwortung für die Liebe, tiefgreifend und herzerweichend, aber keinesfalls zu sentimental. Die lastvollen Verantwortungen sind nur die, die aus zu großen Erwartungen entstehen. So auch Ben und seine Namen, die ihn auffordern, etwas Besonderes zu sein. Im Verlauf des Romans verliert Ben jedoch nach und nach seine Namen und gewinnt dafür die Freiheit, der zu sein, der er sein möchte. Er ist nun frei für die Liebe und den Kuss, denn „der isset immer die Lösung.“

Und wenn der Leser nach seiner Lektüre verwirrt zurück bleibt, so ist dies auch in Ordnung, denn: „Woher stammt die Regel, dass alles einen Sinn macht und irgendwie aufgeht am Ende und mit Draufsicht?“ Außerdem ist das Ende noch lange nicht in Sicht.

(von Jennifer Sprodowsky)

Zur Autorin:
Annika Scheffel wurde 1983 in Hannover geboren und studierte Angewandte Theaterwissenschaften in Gießen. Heute lebt und arbeitet die Autorin in Berlin.


Drucken

TOP

Literarisches Zentrum Gießen e.V.
Südanlage 3a (Kongresshalle)
35390 Gießen

Telefon: 0641 972 825 17
Telefax:  0641 972 825 19
E-Mail:    info@lz-giessen.de

ÖFFNUNGSZEITEN BÜRO:

MO  10.00 - 14.00 Uhr
DI    15.00 - 19.00 Uhr
DO  10.00 - 14.00 Uhr

SOCIAL NETWORKS & KONTAKT

© Copyright 2024 Literarisches Zentrum Gießen e.V. Alle Rechte vorbehalten.