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Sabrina Janesch | Ambra 

Aufbau Verlag 2012
372 Seiten
22,99 Euro
ISBN 978-3-351-03500-6

von Maren Gaertner | Download

Geschichten einer geheimnisvollen Stadt am Meer

„Es ist der Westwind. Im Morgengrauen zieht er vom Meer herüber in die Stadt und bringt den Geruch von Seegras, Meerampfer und Sanddorn in ihre Gassen; dort steigt er auf und vermischt sich mit den Geschichten der Stadt und der Menschen, die in ihr leben und jemals in ihr gelebt haben. Sprachwirbel unterschiedlichster Farbe und unterschiedlichsten Alters greifen hier ineinander, und das, was am Boden geschieht, ist nichts als eine Momentaufnahme des Lebens dieser Stadt…“

In ihrem zweiten Roman Ambra erzählt Sabrina Janesch nicht nur die Chronik einer Familie, sondern auch die einer Stadt. Lediglich als „Stadt am Meer“ bezeichnet, ist zweifellos Danzig gemeint, das die deutsch-polnische Geschichte in sich trägt wie kein anderer Ort, und so den idealen Schauplatz für die Erlebnisse der Protagonistin Kinga Mischa darstellt. Kinga, benannt nach der Heiligen Kunigunde von Polen, die ihre Heimat verlassen musste, um in einem fremden Land zu leben, erbt nach dem Tod ihres Vaters eine Wohnung. Zuvor lebte sie allein mit ihrem Vater irgendwo in Niedersachsen, „hinter den sieben Bergen“ und glaubte sich als letzte Verbliebene ihrer Familie. Doch dann erbt sie nicht nur eine Wohnung in der „Stadt am Meer“, sondern auch gleich noch polnische Verwandtschaft. Da sie nichts in Deutschland zu halten scheint, macht Kinga sich auf den Weg nach Polen und trifft auf Menschen, die zwar zu ihr gehören, ihr aber fremder nicht sein könnten. Da sind ihre Tante Bronka und ihr Onkel Brunon, die der Deutschen misstrauisch gegenüber stehen; ihr Cousin Bartosz, der vom Einsatz im Irakkrieg gezeichnet ist, und Renia, eine feenhafte Gestalt, zu der Kinga sich von Anfang an hingezogen fühlt. Aber auch ein deutscher Stadtschreiber und eine skurrile ältere Dame, die ein Varieté betreibt, in dem übernatürliche Dinge passieren, kreuzen Kingas Weg. Nichts ist so, wie es scheint, und ehe man sich versieht, sind zwei Menschen spurlos verschwunden, scheinbar von der Stadt verschluckt.

Wie ihr Debütroman Katzenberge ist auch Sabrina Janeschs zweites Buch ein Generationenroman. Gekonnt verknüpft sie Gegenwärtiges mit Erinnerungen an die Vergangenheit. Durch ein Stipendium des Deutschen Kulturforums Östliches Europa hatte Sabrina Janesch die Möglichkeit, für ein halbes Jahr als Stadtschreiberin nach Danzig zu gehen. In dieser Zeit lernte sie die Stadt mit all ihren Facetten kennen. Die Erfahrungen und Eindrücke, die sie während ihres Aufenthaltes gesammelt hat, kann man in Ambra wiederfinden.

Es wird schnell deutlich, dass Sabrina Janesch nicht davor zurückschreckt, mystische Elemente in ihr Schreiben einzubauen. So zum Beispiel einen Bernsteinanhänger, der seinem Träger die Gabe verleiht, die Gedanken und Erinnerungen Anderer lesen zu können. Kingas Urgroßvater fand diesen Bernstein, veraltet auch Ambra genannt, und machte einen Anhänger daraus. Eine im Bernstein eingeschlossene Spinne bekommt im Roman sogar eine eigene Erzählstimme. Im Gegensatz zu Kingas gegenwärtiger Erzählperspektive schildert die Spinne als Zeitzeugin die Familiengeschichte von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Entzweiung der Familie durch den Zweiten Weltkrieg. Einen außen stehenden Beobachter des Geschehens stellt der deutsche Stadtschreiber Tilmann Kröger dar. Diese sich immer wieder abwechselnden Ebenen, in denen die verschiedenen Schicksale von Kingas Familie miteinander verknüpft werden, erfordern eine aufmerksame Lektüre, um den Erzählsträngen folgen zu können. Mit ihrem dichten poetischen Erzählstil schafft es die Autorin aber dennoch, den Leser zu fesseln. Es gelingt ihr, nicht nur ein Bild der Stadt, sondern auch ein Gefühl für diese zu vermitteln. Wer selbst noch nicht dort war, möchte spätestens nach der Lektüre einmal die Danziger Gassen entlanglaufen, die Marienkirche und den Langen Markt sehen oder am Hafen sitzen.

Sabrina Janesch hat einen Roman geschrieben, der themenvielfältiger ist, als es zu Beginn scheint. Trotz märchenhafter Erzählstimme sind es vorwiegend ernste Themen, die im Mittelpunkt stehen. Es geht um die Suche nach Heimat und Familie, um Freundschaft, Liebe und Eifersucht, aber auch darum, wie der Krieg die Menschen verändert. Eindringlich zeichnet die Autorin das Schicksal einer deutsch-polnischen Familie nach, angesiedelt in der „Stadt am Meer“.

Zur Autorin
Sabrina Janesch wurde 1985 in Gifhorn geboren. Sie studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim und Polonistik an der Jagiellonen-Universität Krakau. 2009 machte sie ihr Diplom und arbeitet seither als Publizistin und Schriftstellerin. Ihr erster Roman Katzenberge erschien 2010 im Aufbau Verlag. Sie wurde u.a. mit dem Mara-Cassens-Preis für das beste Romandebüt des Jahres 2010, dem Nicolas-Born-Förderpreis und dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet. 2011 war sie Stipendiatin im Ledig House in New York.


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