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Albert Ostermaier | Seine Zeit zu sterben 

Suhrkamp Verlag 2013
305 Seiten
18,95 Euro
ISBN 978-3-518-42382-0

von Benjamin Linhart | Download

„Es gab wieder von allem im Überfluss, auf dem Tisch eine Kriegsflotte Kaviar-Canapés, Kaviarkübel, Kaviarkokotten auf der Couch, alle blond, alle kurzberockt, nur die Netzmuster der Strümpfe unterschieden sie, Hummerschwänze aus allen Weltmeeren, tote Hosen, Schnecken, Froschschenkel, Magersüchtige und Fettpolster, Champagnerflöten und Stehgeiger, Tatar und Tataren, Tattoos und Tabus, Titeltunten und Tittentorpedos, Panzerkreuzer und Kreuzersonaten, Lenin in Platin und Stalin in Stahl, Rasputin und Putinraster, Flüchtlinge und Flüchtige, Wodka und Wotan, Traurigkeit und Trüffel, Weißbrot und Wasser, Ikonen und Ich-Drohnen, Grills und Grillen.“

So sehen die Partys in Ostermaiers Kitzbühel zur Zeit des alljährlichen Hahnenkamm-Rennens aus. Und während im Luxusappartement des reichen Russen Vladimir gefeiert wird, stürzen sich die mutigsten Skirennfahrer die "Streif" hinunter – die mit ihren bis zu 85% Gefälle spektakulärste und gefährlichste Skiabfahrt der Welt. Diese 'Glitzerwelt' wird jedoch zerstört, als plötzlich ein Junge namens Igor aus seinem Skikurs verschwindet. Doch was ist passiert? Ein Unfall? Eine Entführung? Missbrauch? Ein Familiendrama? Ein böser Scherz?

Auf der Piste tummeln sich genügend Verdächtige, die für das Verschwinden des Kindes in Frage kommen und die Ostermaier mitsamt ihren Ängste und (gewaltvollen) Fantasien geschickt einführt: Da sind Christoph und Yvonne, die in Hassliebe verbundenen Eltern des verschwundenen Igor, die russischen Mafiosi Vladimir und Andrej, der verblichene Ski-Star Franz Huller und ein merkwürdiger Zeitgenosse namens Ödön Lunge. Doch was nun wirklich mit dem Jungen passiert ist, lässt Ostermaier lange im Unklaren. Damit wird sein Roman Seine Zeit zu sterben ein von der ersten bis zur letzten Seite spannungsgeladener Thriller, dessen Erzähltempo – Worte und Sätze rauschen vorbei – so rasant ist wie die „Streif“ und für manche Leser/in eine wahre Zerreißprobe darstellen könnte.

Ostermaier präsentiert in seinem Roman nicht nur eine spannende Suche nach der Wahrheit, sondern vermag auch mit seinem Sprachreichtum zu überzeugen und zeichnet mit der stakkatoartigen Aneinanderreihung immer längerer Satzteile ein ebenso schillerndes wie schreckliches Kitzbühel. Wie in seinen Romanen Zephyr (2008), Schwarze Sonne scheine (2011) und Die Liebenden (2012) ist Ostermaiers Ton auch in Seine Zeit zu sterben unverwechselbar und eigensinnig – ein Umstand, der entweder bewundert oder als schwer zugänglich empfunden werden kann. Besonders auffällig sind dabei seine Sprachexperimente und sein Wortwitz, der manchmal bis zum Kalauer gehen kann – wie im Falle des Namens der sich im Roman tummelnden Kommissarin Bonnie Klaid. Jenseits solcher Ausreißer ist Seine Zeit zu Sterben reich an komplexen Bildern, präzisen Beobachtungen, Wortkaskaden und erotischen Metaphern – der Hahnenkamm ist nicht nur der Berg über Kitzbühel, sondern auch eine erogene Zone der Figur Christoph. Durch diesen ausgereiften Stil einerseits und durch das populäre Genre des Thrillers andererseits erweist sich Ostermaier wieder einmal als erfolgreicher Grenzgänger zwischen U- und E-Literatur. Und nebenbei widerlegt er mit der im Roman entwickelten Abwärtsbewegung der Kitzbüheler Gesellschaft einmal mehr den Vorwurf des deutschen Feuilletons, er hätte eine gesellschaftlich-politisch unkritische Haltung.

Über den Autor
Albert Ostermeier, geb. 1967, ist Dramatiker, Lyriker und Prosa-Autor. Er ist u. a. Träger des Kleist-Preises (2003), des Bertolt-Brecht-Preises (2010) und des Welt-Literaturpreises (2011). Zudem engagiert sich er für die Fußballkultur – nicht nur schriftstellerisch (Der Torwart ist immer dort, wo es weh tut, 2006), sondern auch sportlich und kulturpolitisch, denn der Schriftsteller ist Torwart der deutschen Autorennationalmannschaft und Kurator bei der DFB-Kulturstiftung.

(Benjamin Linhart)


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