Kurzprosa
Hanser Verlag 2011
64 Seiten
6.90 Euro
ISBN 978-3446236899
von Matthias Kremp | Download
„Wenn bei uns Krieg wäre. Wohin würdest du gehen?“, so beginnt Tellers raffinierte Einladung an die Vorstellungskraft des Lesers.
Nach dem Erfolg ihres umstrittenen Jugendromans Nichts – Was im Leben wichtig ist im vergangenen Jahr hat der Hanser Verlag nun mit dem schmalen Büchlein Krieg. Stell dir vor, er wäre hier einen weiteren All-Age-Text der dänischen Autorin Janne Teller in einer einfach gehaltenen, aber gerade dadurch gelungenen Übersetzung von Sigrid Engeler vorgelegt. Und erneut steht die Aushandlung ethischer und existenzieller Fragen im Zentrum. Geschrieben hat Teller das Original bereits 2001 für eine Zeitung, aus Anlass zur damals in Dänemark tobenden Flüchtlingsdebatte. Als der Text 2004 zusammen mit den wunderbaren Illustrationen von Helle Vibeke Jensen in der Aufmachung eines Reisepasses erschien, hatte er nichts von seiner früheren Aktualität eingebüßt. Auch die deutsche Fassung, für die Teller ihre Fiktion an die geopolitische Situation von Deutschland angepasst hat, ist, was die parabelhafte Losung anbelangt, brandaktuell.
Das „hier“ im Titel verweist auf das eigene Land, der Krieg vor der eigenen Haustür, genauer: Wir sind mittendrin im Krieg. Die Europäische Union und die Demokratien haben versagt. Nationalistische und autokratische Bestrebungen haben sich durchgesetzt und Deutschland will sich von der Idee „Europa“ verabschieden, sich abkapseln und seinen Sonderweg gehen. Es kommt zum Krieg.
„Wenn bei uns Krieg wäre. Wohin würdest du gehen?“ eröffnet nicht nur den fiktionalen Essay, sondern zugleich ein literarisches Gedankenexperiment. „Stell dir das einmal vor“ ist ein einfacher, aber wirkungsvoller ästhetischer Kunstgriff, mit dem Teller eine Einladung an die Vorstellungskraft des Lesers ausspricht. Stell dir vor, dein Land liegt in Trümmern, deine Mutter ist schwer krank, Kälte, Hunger und Angst vor Bomben bestimmen deine tägliche Sorge – und diese Katastrophe findet nicht anderswo statt, sondern hier! Um diese Strategie noch wirkungsmächtiger zu machen, hat Teller die seltene Form des Du-Erzählers gewählt. „Du“, das ist nicht nur der 14-jährige Junge, der mit seiner Familie versucht, aus Deutschland zu flüchten. Das „Du“ nimmt den Leser unweigerlich mit in dieses Gedankenexperiment, ohne penetrant und überheblich belehrend zu sein.
Die Welt steht schlichtweg auf dem Kopf. Während Europa in eine Landschaft aus Angst und Schrecken zerfällt und die Zahl der Flüchtlinge in die Millionenhöhe steigt, Flüchtlinge, die ums nackte Überleben zittern, betteln und kämpfen und nicht wissen wohin, herrscht im Nahen Osten Frieden. Doch dort steht man den europäischen Flüchtlingen zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber. Man will sie nicht haben, diese „dekadenten Menschen aus dem Norden“.
Schließlich gelingt dem Jungen mit seiner Familie doch die Flucht nach Ägypten, wo sie zwei Jahre in Flüchtlingslagern leben, unter erbärmlichen Bedingungen. Man kann nicht zurück, auch nicht nach Kriegsende, denn die alten Funktionäre ziehen im eigenen Land noch immer die Fäden. Dort gilt man als Verräter, weil man der Heimat den Rücken gekehrt hat als es „ernst“ wurde. Nach zwei Jahren Ungewissheit erhält die Familie Asyl und versucht, sich durchzuschlagen, in einer noch immer fremden Welt.
Zwar sind Krieg und Nachkriegssituation in topographischer wie geopolitischer Lage fiktiv, doch die Thematik ist allzu real. Durch den Arabischen Frühling und die damit einhergehende Flüchtlingsproblematik erfährt der Essay eine geradezu beunruhigende Aktualisierung. Janne Teller hält uns einen Spiegel auf zwei Seiten vor. Im Blick in den einen werden wir mit unseren Vorurteilen, Stereotypen und Ängsten vor dem Fremden konfrontiert. Der andere appelliert an unsere Empathie und erinnert an die in Europa höchstgepriesenen ethischen Grundsätze, die Teller im Nachwort wie folgt zusammenfasst: „Alle Menschen wurden gleich geschaffen“ und „Behandle die Menschen so, wie du selbst von ihnen behandelt werden willst“. Wenn Teller hier traditionelle christliche und philosophische Prinzipien auf die Migrationsdebatte bzw. Flüchtlingsthematik anwendet und die Fragilität der Idee „Europa“ vorführt, dann weiß sie aus eigener Erfahrung, wovon sie spricht. Selbst stammt die ehemalige Konfliktberaterin für die EU und die UN aus einer österreichisch-deutschen Einwanderer- und Flüchtlingsfamilie in Dänemark ab, die am eigenen Leib erleben musste, wie Grundfeste plötzlich erschüttert werden können und sicher Geglaubtes ins Wanken gerät.
Nach der kurzweiligen Lektüre mag der Leser vielleicht bedauern, dass der Jugendliche wie Erwachsene ansprechende Text auf seine Weise so kurz geraten ist und nicht ein bisschen mehr erzählerisch entfaltet wurde. Doch hätte er dadurch womöglich an Eindringlichkeit verloren.
Zur Autorin
Janne Teller, geb. 1964 in Kopenhagen, stammt aus einer deutsch-österreichischen Flüchtlingsfamilie. Seit 1995 widmet sich die studierte Staatswissenschaftlerin und ehemalige Konfliktberaterin ganz dem Schreiben. In ihrem Werk, das große wie kleine Leser anspricht, stehen zumeist die existenziellen Fragen des Lebens im Mittelpunkt. Neben dem mehrfach preisgekrönten Jugendroman Nichts sind in deutscher Sprache noch Odins Insel (Goldmann 2002) und Die sieben Leben der Katze (btb 2010; Neuausg. unter dem Titel Europa. Alles, was dir fehlt, btb 2011) erschienen.
(von Matthias Kremp)