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Christian Eisert | Kim und Struppi 

Ullstein Extra 2014
318 Seiten
14,99 Euro
ISBN 978-3864930201

von Annina Hofferberth  | Download

Rezension zu Christian Eisert: Kim & Struppi

„Trotz dieses wohl nie endenden Streitthemas schien es uns, als tauchten wir nach Tagen unter Wasser wieder auf. Das Land hatte uns mit Eindrücken und Informationen überspült. Der Druck, sich richtig verhalten und anpassen zu müssen, hatte uns fast die Luft zum Atmen geraubt. Und das letzte bisschen Sauerstoff hatten wir einander gegenseitig genommen. Zurück an der Wasseroberfläche schwammen wir nun in die gleiche Richtung. In Richtung Rutsche.“

Diese Regenbogenrutsche war der Anlass zu einer aufregenden, ungewöhnlichen und aufschlussreichen Reise, die Christian Eisert nach Nordkorea führt. Diese Regenbogenrutsche hatte er in seiner Kindheit im Kinofilm Sojus das erste Mal gesehen – in einem Film, der die Wunder Nordkoreas und damit auch die Regenbogenrutsche in Pjöngjang zeigen sollte. Dieser wurde in der „Schule der Freundschaft zwischen der DDR und der KDVR“ vor einem Besuch einer nordkoreanischen Delegation gezeigt. Die Bilder hatten einen so nachhaltigen Eindruck bei Eisert hinterlassen, dass er sich nun, 25 Jahre später, mit seiner Bekannten Thanh Hoang auf die Reise nach Nordkorea begibt. Schon die ersten Schritte auf nordkoreanischem Boden werden eine Zitterpartie, hat die kleine Reisegruppe doch ein halbes Kilo Schokolade in Zwanzig-Gramm-Täfelchen auf ihr Gepäck verteilt, um mit kleinen Geschenken vielleicht mit einigen Einwohnern dieses geheimnisvollen Landes in Kontakt zu kommen. Und mit Zittern soll die Reise auch weitergehen, denn immer wieder fürchtet Christian Eisert die Enttarnung, wenn Thanh oder er sich auffällig verhalten und die Struppis – braun-gekleidete Aufpasser, die sich stets bemühen, unauffällig zu wirken und daher umso mehr hervorstechen – sie bei kleinen rebellischen Akten beobachten, zum Beispiel, wenn sie sich nicht vor einer Statue Kim Il-sungs verbeugen. Aber die Reise ist auch angefüllt mit allerlei Absurditäten und komischen Situationen: So versucht Christian Eisert vergeblich, Wanzen im Hotelzimmer zu finden oder in besagtem Hotel mit dem Aufzug, dem die Knöpfe für einige Etagen fehlen, in die verbotenen Stockwerke zu fahren. Ebenso kurios ist der Versuch einer Bedienung, aus einem einzelnen Teebeutel für die gesamte Besucherschaft des Restaurants Tee aufzubrühen oder eine Soft-eismaschine in einem Hotelzimmer ohne Strom. Oder der improvisierte Auftritt des Servicepersonals einer Autobahnraststätte, die den Gästen ein wenig nordkoreanisches Liedgut näher zu bringen versuchen.Den meisten Lesern fallen bei Nordkorea Begriffe wie Diktatur, Menschenrechtsverletzungen, Gewalt, Verfolgung ein. Doch Christian Eisert bemerkt bei der ersten Berührung eines Nordkoreaners: „Sie fühlten sich warm an.“ Und das kann stellvertretend für seinen außergewöhnlichen Reisebericht stehen, denn er erzählt vor allem menschlich und realistisch. Er streut immer wieder interessante Fakten über Nordkorea ein, sodass auch mit diesem Land unver-traute Leser ein lebendiges Bild davon bekommen - fernab von Propaganda auf der einen und verzerrter Berichterstattung auf der anderen Seite. Denn: „Bei allem Größenwahnsinn und Elend, bei aller Angst und Brutalität, es leben, lieben und lachen Menschen in Nordkorea.“ Es gibt in diesem Land viel Schönes zu entdecken wie atemberaubende Landschaften, nette Menschen und auch viel Absurdes wie einen angeblich tausend Jahre alter Tempel, der aus Beton gebaut wurde – natürlich nur, weil der alte Tempel im Krieg gegen die Japaner zerstört wurde. Oder die Behaup-tung, dass Kim Il-sung 10.000 Bücher geschrieben haben soll, also seit seiner Geburt alle drei Tage eines. Aber manches wirkt in Eiserts Bericht auch erschreckend, so wie der Mann in der U-Bahn-Station, der vor den Augen der Reisegruppe von Soldaten herausgegriffen und einfach abgeführt wird oder dass Christian Eisert nicht einmal eine E-Mail ohne vorherige Kontrolle durch einen Nordkoreaner abschicken darf. Überall wittert man als Leser Verschwörungen, man sieht mit dem Autor Wanzen im Zimmer und ein Täuschungsmanöver beim angeblichen Mönch im Tempel oder der ‚typischen‘ Bauernfamilie. Dann löst der Autor die Situationen jedoch gekonnt auf und führt dem Leser seine thematische Befangenheit vor Augen.Bei einem Gag-Schreiber würde man erwarten, dass er ein Humorfeuerwerk entzündet und die Glaubwürdigkeit dabei auf der Strecke bleibt, aber genau dies macht Christian Eisert nicht: Sein Buch ist zwar komisch und zum Schmunzeln, bleibt aber glaubwürdig. Schade und unnötig ist allerdings der irreführende Klappentext, der eine gefahrvolle Reise mit gefälschter Biographie und unter ständiger Beobachtung des Geheimdiens-tes mit ständig drohender Entdeckung suggeriert, was aber am Kern des Textes und seinen gelungenen Beschreibungen von Land und Leuten vorbeigeht. Diese Gefahr ist zwar existent, immerhin plant Eisert nach seiner Reise ein Buch über Nordkorea und seine Begleiterin Thanh ist Fotojournalistin, sodass beiden wohl wirklich Lagerhaft drohen würde, wenn ihre wahre Identität aufflöge. Aber dennoch ist diese Bedrohung im Buch nicht omnipräsent.
Ein weiterer Kritikpunkt sind die andauernden Andeutungen über zahllose heimlich geschossenen Fotos der Reisegruppe. In der Mitte des Buches sind zwar einige Seiten mit Bildern eingefügt, aber diese wirken auch im Kontext der Geschichte noch etwas blass und können nicht mit den Bildern, die die Geschichte eröffnet, mithalten. Auch wenn dadurch die Kosten des Buches gestiegen wären, hätte ich mich über eine größere Bildstrecke zu diesem Text mehr gefreut, vor allem weil sich dann die Verbindung von Thanh und Christian in der Reisegruppe deutlicher in diesem Werk niedergeschlagen hätte. Immerhin: Bestimmte Bilder werden auf seinen Lesungen gezeigt. Es gibt also noch Möglichkeiten, auch diese zu Gesicht zu bekommen.Wer also gerne einmal jenseits der Medienberichterstattung etwas über Nordkorea lernen und dabei mit einer locker-leichten Schreibweise unterhalten und zum Lachen gebracht werden möchte, dem sei Eiserts Buch wärmstens ans Herz gelegt, denn er hat den Mut, das Schöne des Landes zu zeigen, ohne das Hässliche zu verschweigen.

Zum Autor
Christian Eisert, geboren 1976 in Ostberlin, ist TV-Autor, Satiriker und Comedy-Coach. Er schreibt Gags, Sketche und Drehbücher u. a. für Harald Schmidt und die Fernsehshows „Alfons und Gäste“ und „Grünwald Freitagscomedy“. Erste Erfahrungen mit Nordkorea sammelte er im Jahr 1988, als er an seiner Schule zu Ehren einer Gästedelegation aus Pjöngjang Arbeiterkampflieder sang.


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