Aus dem Russischen von Christiane Körner
Ullstein Verlag
208 Seiten
24 Euro
ISBN: 978-3-546-10093-9
von Lothar Schneider
Dies ist kein Buch zum Verschlingen. Im Gegenteil: Man nimmt es auf, liest ein paar Seiten, legt es weg und denkt darüber nach. Dabei ist es nicht verrätselt und nicht verquast, sondern leicht zugänglich, angenehm zu lesen. Also ein ideales Buch zum Einschlafen – wenn man darunter das sanfte Hinübergleiten aus der Lektüre in Gedanken und aus den Gedanken in den Schlaf versteht. Ein wunderbar altmodisches Buch, das, anstatt Menschen und Gegenstände erklären und rubrizieren zu wollen, danach fragt, was Menschliches ist, wie es sich zeigt, wie es sich verhält in seiner Welt und in der größeren der Natur, wie man es finden – und wie man es beschreiben kann.
Wassili Grossman ist ein herausragender Romancier und Chronist des Zweiten Weltkriegs: Grossman hatte sich freiwillig zur Armee gemeldet; seine Reportagen von der Front sind berühmt, sein Bericht über das Vernichtungslager Treblinka wurde bei den Nürnberger Prozessen herangezogen, sein Roman Leben und Schicksal, der erst1989 vollständig erscheinen konnte, beschreibt detailgetreu die Schlacht um Stalingrad und ebenso akribisch die gesellschaftlichen Folgen des Krieges im Hinterland. Der folgende Roman Alles fließt schließlich schildert die Nach-Stalin-Welt aus einer zutiefst desillusionierten humanistischen Perspektive. Auch er wurde konfisziert. Selbst die vermeintlich leichtgewichtige Armenische Reise konnte erst 1988 vollständig erscheinen – 24 Jahre nach dem Tod des Verfassers.
1961 hielt sich Grossman zwei Monate in Armenien auf, um die Übersetzung eines Romans des armenischen Autors Hrachja Kotschar (Die Kinder aus dem großen Haus) zu überarbeiten. Aber Grossman spricht kein Armenisch. Was ihm bleibt, sind Wahrnehmungen, ist die Beschreibung der Natur, sind Beschreibungen von Menschen, die Beschreibungen ihrer Handlungen sowie die Beschreibung seiner Reaktionen auf die Welt, in der er sich bewegt.
Grossman bleibt nicht nur in Jerewan, der Hauptstadt, sondern bereist das kaukasische Gebirgsland, fährt ins hochgelegene Zagkhadsor, besucht den Sewansee, den größten Gebirgssee des Kaukasus, den Kurort Dilidschan mit seinem berühmten Klosterkomplex Haghartsin und das Kloster Geghard – Armenien beansprucht, als erstes Land das Christentum als Staatsreligion angenommen zu haben. Die literarische Reise endet mit der Beschreibung einer Hochzeit in einem kleinen Dorf an den Hängen des Aragaz, des höchsten Berges in Armenien. Doch mehr als an den Attraktionen der Landschaft und den bedeutenden Baudenkmälern ist Grossman an den Menschen interessiert, an individuellen Charakteren wie an der tragischen Geschichte des Volkes, in der der Autor Parallelen zur eigenen jüdischen Geschichte erkennt.
Doch Grossmans Prosa notiert und dokumentiert nicht einfach die Bilder der imposanten und geschichtsgesättigten Landschaft, die Szenen aus dem Leben ihrer Bewohner, ihre Charaktere und Stereotypen: Er bringt sie hervor, evoziert sie, lässt sie erscheinen, stellt sie vor Augen – und exponiert dabei auch seine Figur bis an die Grenze der Lächerlichkeit. Jeder Autor ist ein Übersetzer, wenngleich im weiteren Sinn. Grossman übersetzt Wahrnehmung in Literatur: Aus den Eindrücken gerinnen Bilder, Landschaften weiten sich zu Metaphern, Erlebnisse formen sich zu Gleichnissen, aus Individuen werden Figuren. Fast schwerelos, ohne an Konkretheit zu verlieren, lösen sich so Gegenstände aus ihren Umständen. Wie Grossman über den größten See Armeniens schreibt: „Der Sewan liegt in einem Feld aus Stein. Seltsam – mitten im Gestein sieht man plötzlich das blaue Seewasser. Der Sewan ist mit dem steinernen trockenen Land überhaupt nicht verbunden, ebenso wenig wie ein glänzender geschliffener Edelstein etwas mit dem schwarzen Samt gemeinsam hat, auf dem er liegt.“ (S. 76)
Lothar Schneider