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Sylvain Prudhomme | Allerorten 

Unionsverlag 2020
251 Seiten
22 Euro

ISBN 978-3-293-00561-7

von Chara Bakhouch| Download

Fremde Gesichter, eine Fahrt ohne Destination, Gespräche mit verschiedensten Ausgängen, Kaffee an Raststätten, durchzechte Nächte. Das Leben eines Trampers. Vielen erschien das Trampen als abenteuerlich, gar verrückt. Nicht aber dem Anhalter in Allerorten, dessen Drang nach den abgelegensten Orten, den unterschiedlichsten Begegnungen und den eindrücklichsten Erfahrungen unersättlich ist. So erscheint der Romantitel Allerorten (franz. Par les routes) unverwechselbar, denn er bezeichnet in altertümlicher, aber poetischer Art all jenes Berührte und Unberührte »überall«, das den Lebenshunger des Anhalters entfacht.

Doch zunächst zum Beginn: Der Ich-Erzähler und Schriftsteller Sacha, überdrüssig vom Pariser Großstadtflair, zieht für eine neue Inspiration in eine Kleinstadt V. irgendwo in der Provence.  Zufällig lebt dort auch der Anhalter – ein Freund aus alten Tagen, dessen Bekanntschaft er während seines Studiums in Paris machte. Sacha lernt, dass der Anhalter mittlerweile mit Marie verheiratet ist, ein Kind namens Agustín hat, durch allerlei handwerkliche Arbeit sein Geld verdient. Sacha merkt allerdings auch, dass sich der Anhalter kaum merklich veränderte. Die aus jugendlichem Leichtsinn heraus entstandenen Abenteuer des Trampens verwandelten sich für den Anhalter, zwei Jahrzehnte später, zu einer zwanghaften Aufgabe, einer Herausforderung des Lebens. »Der immer häufigere Verzicht auf diese oder jene Verrücktheit, die ihm früher als das Salz des Lebens.« erschien, lehnt der Anhalter mit seinem ganzen Wesen vehement ab, auch wenn das bedeutete, dass er sein Leben zurücklassen müsse. Und das tut er: buchstäblich. Kilometer um Kilometer entfernt er sich immer weiter und öfter von dem, was Marie, Agustín und sein Leben in der Provence für ihn verkörpern:  Ein friedliches, ungestörtes, fast schon aalglattes Leben. Dabei sind seine Ausflüge unmittelbar und durch unvorhersehbare Rückkehr gekennzeichnet. Die Abwesenheiten des Anhalters sind immer länger und geschehen immer öfter. Sacha, der sich mittlerweile in V. eingelebt hat, unterstützt Marie, begleitet sie in ihrem Alltag, bis er eines Tages die zurückgelassene Trauer des Anhalters durch ein ausgeglichenes Leben und eine neue Liebe zu ihm ersetzen kann.

Wer bei der ménage à trois verzweifelt auf Konfrontation, auf den großen Knall, einen letzten Brief oder gar auf eine Gefühlsentladung hofft, der wartet vergebens. Maries Beziehung zum Anhalter erscheint als ein vegetatives Dahinschleichen – ein Ausschleichen, als unausgesprochener Abschied, durchmischt mit sporadischen Erinnerungen an eine Existenz, die mit der Zeit immer mehr verschwimmen würde. Der Anhalter nimmt die Form eines halb-transparenten Geistes ein, der bis zum Schluss mit seiner Teilnahme nur dann erinnert, wenn er sich zu erkennen gibt.

Doch trotz aller Verzweiflung fängt Prudhomme mit einem lyrischen Feingefühl das ein, was seit Anbeginn der Zeit dem Menschen innewohnt: Die Angst vor Zurückweisung, das Bedürfnis, die Leere des Lebens panisch, fast schon besessen auszufüllen und die Paradoxität der Gefühlswelt: »Ich weiß, dass ich meiner Beziehung mit Marie dadurch schade, Und ich ziehe trotzdem los. Ich sollte nicht mal »trotzdem« sagen. Es ist fast das Gegenteil. Ich ziehe los, eben weil ich es nicht tun sollte. […] Ich mache es, weil ich spüre, dass es ernst ist. Weil. Weil alles zu gut läuft. Alles zu perfekt ist. Etwas in mir will das kaputt mache.« 

Allerorten handelt von der Reiselust, von der Sehnsucht nach einem undefinierbarem Mehr, vom Abreisen und vom Ankommen, vom Bleiben und vom Gehen und vor allem bietet der Roman eine Nische für all diejenigen, die sich in dem Labyrinth der Lebensentscheidungen verloren fühlen.

Prudhomme gestaltet auf eine besondere Art und Weise eine Atmosphäre, die er durch seine schleichende Zuspitzungstechnik entwickelt.  Durch die vielen – allerdings kurzen Kapitel – erfährt der/die Leser*in in einer besonderen Dichte über die inneren Vorgänge der Protagonisten. Die eingesparte Interpunktion in Prudhommes Roman verstärkt den Effekt der Nähe (Statt Fragezeichen werden Punkte verwendet, keine Anführungszeichen), da die Vermutung nahe liegt, dass Prudhomme diese Interpunktionszeichen als entfremdend kategorisiert. Auch die zahlreichen intertextuellen Referenzen im Roman sollen ein tieferes Verständnis für die Geschichte aufbereiten. So etwa erzählt der belesene Sacha über literarische Werke von Gustave Flaubert, Claude Simon oder Giani Stuparich, wobei diese intertextuellen Anspielungen durch die Erinnerung an Leonhard Cohens famous Blue Raincoat in einer musikalischen Hommage an den Anhalter gipfeln.

Über den Autor: Sylvain Prudhomme, geb. 1979, ist Schriftsteller und Übersetzer. Er studierte in Paris Literaturwissenschaften, um danach mehrere Jahre in Afrika zu arbeiten. Weiterhin ist er Mitbegründer der Zeitschrift Geste. Zu seinen Werken gehören Legenden (2019) und Ein Lied für Dulce (2019). Er wurde u.a. mit dem Prix littéraire Georges Brassens, dem Prix littéraire de la Porte Dorée und dem Prix Révélation de la Société de Gens de Lettre ausgezeichnet. 2019 erhielt er für Allerorten den Prix Femina.

                                                                                                                                                                                                                           

Chara Bakhouch


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