Sommerleithe - Wortbegehung einer Kindheit diesseits und jenseits der Zonengrenze. Klaus Weise liest aus seinem Debütroman 

Hans-Jürgen Linke und Klaus WeiseHans-Jürgen Linke und Klaus Weise

(Nachholtermin vom 3.2.)

Donnerstag, 30.3., 19 Uhr
KiZ (Kongresshalle)
Südanlage 3a
35390 Gießen

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Eintritt: 8 € Ç€ erm. 6 € Ç€ LZG-Mitglieder 4 €
 

Moderation: Hans-Jürgen Linke (LZG)
 

»Die Sommerleithe war die Leitplanke des Glücks. Sie flankierte den Sommer meiner ersten Lebensjahre; als sie weg war, war alles weg, was mir vertraut war und was ich liebgewonnen hatte« (S. 67).

Klaus Weise zeigt in seinem Debütroman Sommerleithe – Wortbegehung einer Kindheit diesseits und jenseits der Zonengrenze wie ertragreich, vielschichtig und abwechslungsreich Erinnerungen sein können, wenn wir uns die Zeit nehmen, unsere Kindheit und Jugend im Rückblick zu betreten. Darüber hinaus gibt das Werk eine Vorstellung davon, wie ein Sechsjähriger die Flucht aus der DDR in die BRD, die Ankunft in der Bundesrepublik und das Leben mit dem Gefühl der Heimatlosigkeit erlebte.

Während Klaus Weise sich noch mit seiner Frau und seinen ebenfalls angereisten Kindern unterhielt, füllte sich der Ausstellungsraum des KiZ (Kultur im Zentrum) in der Kongresshalle Gießen am Abend des 30. März bereits mit vorfreudigen und gespannten Besucher*innen. Die Gäste bekamen ein großes Themenspektrum geboten und ebenso viele sowie starke Eindrücke aus dem Leben des Autors und ehemaligen Intendanten des Bonner Theaters. Weise machte bereits 1979 als freischaffender Regisseur in Gießen Station, um im Stadttheater Oscar Wildes Bunbury (orig. Titel: The Importance of Being Earnest) zu inszenieren, wie Hans-Jürgen Linke (LZG), der Moderator des Abends, verriet.

Das Buch, so Weise, ist Roman und Wortbegehung zugleich. Er setzt sich aus episodenhaften Abschnitten zusammen und ist von Zeitsprüngen geprägt, was den erinnernden Charakter somit auch in der Form und im Aufbau des Werks deutlich werden lässt. Die erzählten Phasen und Eindrücke spielen vor allem in den 1950er und 1960er Jahren. Die Familie flieht 1958, also noch vor dem Bau der Mauer, aus der DDR. Weise, zu diesem Zeitpunkt 6 Jahre alt und noch nicht eingeschult, wusste von dem Fluchtvorhaben nichts, Kinder könnten schließlich etwas verraten und die Stasi hatte ihre Ohren überall. Erst auf der Flucht offenbart der Vater, dass sie (die Familie) nicht zurückkehren werden.

Die ersten Zeilen des Buches finden dort ihren Anfang, wo viele autobiographische Werke beginnen: in der frühen Kindheit. So hielt es auch Klaus Weise an diesem Abend, der das erste Kapitel in gekürzter Fassung vorlas: »In einem Himmel aus Schinken, Wurst und Speck« (S. 9). Er hängt in der elterlichen Metzgerei, sich an einen Räucherspieß klammernd, »im Metzgerhimmel« (S. 9). Aus diesem Spaß wird jedoch schnell bitterer Ernst, als die, die ihn gerade hochgehoben hatten, den Raum verließen, das Licht ausschalteten und die Tür verriegelten. Sein Bruder habe keine Anstalten gemacht, ihm wieder herunterzuhelfen, sondern »glotzte nur ohne zu blinzeln«. Der junge Klaus Weise hängt somit verlassen an der Decke des Raums, während die Kraft in den Armen schwindet und er auf Rettung hofft.

Ein weiterer Auszug, den Weise dem Publikum präsentierte, handelt von der bereits angesprochenen Flucht aus der DDR. Er erschafft dabei eine düstere Atmosphäre, wenn er schreibt, dass »[s]elbst der Himmel über Berlin […] die Stadt aufgegeben« (S. 76) hatte und in der U-Bahn die Angst herrschte. Weise schildert mit starken Bildern und poetischer Sprache die Angst, Ungewissheit und Hoffnungslosigkeit der Flüchtenden, wobei sich gegenwärtig beinahe unweigerlich Gedanken an die Situation Schutzsuchender aus der Ukraine einstellen. Klaus Weise nennt die Flucht das bis dahin einschneidendste Erlebnis, das er sich vorstellen konnte.

In der Folge wurde die Stimmung wieder heiterer, als es um das Kennenlernen des Frankfurter Dialekts und eines regionalen Getränks, den Apfelwein, ging. In Sommerleithe hält Weise in Bezug auf die Frankfurter fest: Sie »sprachen, wie das Getränk schmeckte, das sie tranken.« (S. 272). Goethe, so Weise augenzwinkernd, sei vor diesem Dialekt geflohen und habe Schutz in Weimar gesucht, damit sei eigentlich alles gesagt. Mittlerweile, gestand er dann doch, trinke er auch mal einen Schluck Apfelwein. Früher aber habe er an Frankfurt nichts Gutes lassen können, während er es heute als schöne Stadt schätze.

Ein weiteres Kapitel gibt sich heiter und humorgeladen. Weise las nun von Frau Pavel, einer offenbar attraktiven Frau, die sich häufig in einem weißen Bikini auf dem Balkon sonnte, welcher von der elterlichen Metzgerei aus gut sichtbar war. Frau Pavel sorgte damit dafür, dass »die Putzfrauen, die Verkäuferinnen und meine Mutter – […] empört« (S. 47) waren. Die Männer, waren natürlich ebenfalls empört, aber sie »wollten […] erst einmal sehen, und zwar genau sehen, worüber sie anschließend zu Recht empört waren« (S. 47) und machten dann also eine besonders lange Zigarettenpause oder hatten plötzlich außerhalb der Metzgerei Arbeit zu verrichten – eine Empörung auf Seiten der männlichen Mitarbeiter, deren Ernsthaftigkeit wohl angezweifelt werden darf.

Beim Blick auf das Cover wartete manch Anwesender oder Anwesende sicher darauf, dass Weise mehr über den Bezug zum Metzgerhandwerk sprach, was er im Laufe des Abends dann schließlich tat. Als Kind arbeitete er in den Ferien in der Metzgerei seines Vaters mit. Im Alter von 14 Jahren fuhr er zum ersten Mal mit zum Schlachten. Im Buch schildert er den Vorgang des Schlachtens samt den eigenen Empfindungen detailliert, was er am Abend der Lesung jedoch aussparte. In dem Kontext kam er auch auf das Thema Fleischkonsum zu sprechen, welchen er nicht verpöne, er aber eine Art »TÜV des Tötens«, um mehr Ehrfurcht vor dem Leben zu erreichen, sich als gut und richtig vorstellen könne. Müsste jeder Mensch, der Fleisch konsumieren möchte, einmal jährlich eigenhändig schlachten, dann würde das, so die Idee, für eben diese Ehrfurcht sorgen. Dadurch, dass der Großteil der Fleischkonsumenten das Töten jedoch in Expertenhände gibt und somit der Prozess, der das Tier zum Lebensmittel werden lässt, aus dem Auge verschwindet und damit aus dem Sinn bleibt, entsteht eine Art Schutzwall, durch den man sich nicht mit dem Tötungsprozess auseinandersetzen muss und zugleich problemlos weiterkonsumieren kann.

Der Roman beinhaltet jedoch mehr als lediglich Erinnerungen. Weise setzt sich mit der Gestalt der Erinnerung selbst auseinander. Die autobiographische Erinnerung bietet, durchsucht man sie intensiv, nicht nur schöne Episoden, sondern fördert auch immer wieder negativ belastete zutage, wie der Roman eindrucksvoll zeigt. Zudem sei es stets ein Kampf gegen die Vergänglichkeit des Erinnerns, den man schließlich verlieren werde, worin Weise einen Grund zur Verschriftlichung sehe.

Zu einer Frage aus dem Publikum, ob ein weniger »abschreckendes und blutiges« Bild für das Cover nicht besser geeignet gewesen wäre, meinte Weise, dass das Cover alles andere als abschreckend wirken soll, vielmehr ginge es darum, Aufmerksamkeit zu wecken, damit man hinschaut. Darüber hinaus zeige es einen Mann, der etwas erreicht habe und darauf stolz gewesen sei: Hans Weise, den Vater des Autors. Ähnlich wie Georg Büchner es in Woyzeck mit einem einfachen Soldaten machte und Gottfried Benn in Eure Etüden schreibt: »doch Hunde, Schakale/die haben auch ihr Lied« (III, 1-4), sieht Weise es auch: Ein »einfacher« Mensch sollte ruhig auch in den Mittelpunkt gestellt werden, es brauche nicht immer die großen »Helden«.

Klaus Weise nahm die Zuhörer*innen mit der Lesung aus Sommerleithe in Abgründe, zog sie mit humorvollen anekdotischen Geschichten wieder hoch, um dann wieder mit ernsten, nachdenklichen und traurigen Erinnerungen fortzufahren. Er bot damit nicht nur eine gewaltige Breite an Themen, sondern es gelang ihm zudem, dass all diese beleuchteten, erinnerten Episoden intensiv und emotionsgeladen vermittelt wurden.

Fabian Seelbach

 


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