Sommer bei Nacht. Jan Costin Wagner liest aus seinem neuen Kriminalroman 

(Nachholtermin vom 25.3.)

Mittwoch, 14.4., 19:30 Uhr (digital über Webex)

Gästebuch | GAZ

 

 

Digitaler Zugang: kostenfrei

Moderation: Sascha Feuchert (LZG I Institut für Germanistik)

Eine Veranstaltung im Rahmen der Kampagne #zweiterfrühling des Netzwerks der Literaturhäuser e.V., gefördert im Rahmen von NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien durch den Deutschen Literaturfonds e.V.

In Kooperation mit dem Kulturamt der Stadt Gießen.

 

Insgesamt war es schon der dritte Anlauf, den Jan Costin Wagner unternahm, seinen neuesten Kriminalroman beim LZG im Rahmen von Lesung und Gespräch vorzustellen. Der erste scheiterte letztes Jahr aufgrund von Corona, der zweite im März aufgrund unüberbrückbarer technischer Differenzen, sozusagen. Am vergangenen Mittwoch, dem 14. April, war es nun endlich soweit und Wagner las aus Sommer bei Nacht. Die Spannung, ob dieses Mal technisch wohl alles klappen würde, war interessanterweise auch über Webex greifbar – und das, obwohl die allerwenigsten Teilnehmer*innen ihre Kameras eingeschaltet hatten und sich somit das Augenmerk (ganz passenderweise) hauptsächlich auf Wagner und den Moderator Sascha Feuchert richtete. Jener rekapitulierte auf charmante Art den letzten, missglückten Lesungs-Versuch und schlug dann schnell eine thematische Brücke zu Wagner und seinem Roman.

 

Wagner, 1972 geboren und als Schriftsteller und Musiker in der Nähe von Frankfurt am Main lebend, ist mittlerweile vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Deutschen Krimipreis. Mit Sommer bei Nacht begründet er eine neue Buchreihe um die Ermittler Ben Neven und Christian Sandner, und gleich in deren ersten Fall führt es die Leser*innen in seelische Tiefen. Im Zentrum des Romans steht der Entführungsfall um den kleinen Jannis, verschwunden auf einem Grundschulflohmarkt. Die Ermittler finden eine Verbindung zu einem weiteren Vermisstenfall in Österreich. Das Besondere ist: Die Leser*innen kennen von Anfang an den Täter, er ist eine von ganzen 14 Erzählperspektiven im Buch. Warum diese multiperspektivische Erzählweise? Wagner sagt dazu, das vielperspektivische Erzählen liege ihm. Er schildert eine Kindheitserinnerung: »Wenn ich zum Beispiel ein Haus betrachtet habe, ein Hochhaus, in dem Lichter brennen und andere sind dunkel – dann hab‘ ich mir immer vorgestellt, was ist jetzt in jedem einzelnen dieser Räume los?« Und weiter: »Ich hab‘ mir vorgestellt, dieses ganze Bild zu sehen, und wenn ich sozusagen alles begreifen kann, jede dieser Biografien, dieser Geschichten, die sich hinter den Menschen verbergen, dann kann ich dieses ganze Bild betrachten und begreifen.« Er möge außerdem überraschende Wendungen, welche aber mit dem Erzählten nahtlos verschmelzen müssten.

 

Und überraschende Wendungen gibt es in Sommer bei Nacht allemal. In der ersten vom Autor gelesenen Passage wird am Ende deutlich: Der Ermittler Ben Neven, verheiratet und Vater einer kleinen Tochter, ist selber Besitzer und Konsument kinderpornografischen Materials. Mit überraschender Behutsamkeit, ohne unnötig voyeuristisch zu wirken, schildert Wagner den Moment, indem für Neven der Druck wieder einmal zu viel wird und er darum einen bestimmten Speicherstick in seinen Computer steckt. Diesen Moment beschreibt Wagner als neuralgischen Punkt, als Zerreißprobe, die dieser Figur zugrunde liege. Missbrauch finde immer in der »Mitte der Gesellschaft« statt und ihm sei klar gewesen: Er darf dieser Figur nicht ausweichen, muss dieser Tatsache Rechnung tragen und Fragen aufwerfen. Sein Ziel war, eine Identifikationsfigur mit Makel zu etablieren. Genau dies ist ihm gelungen, denn die Leser*innen empfinden trotz Bens Neigung widerwillige Empathie mit ihm. Wagner betont auch, dass es ihm ein Anliegen gewesen sei, »Begreifen zu lernen«, »Prävention zu schaffen« – »eine Art der Betrachtung, die ermöglicht, offener miteinander umzugehen«.

 

Es ist des Weiteren nicht nur Ben Neven, der erstaunlich echt gezeichnet scheint. Auch die anderen Charaktere, aus deren Perspektive Wagner liest, scheinen zum Greifen nah, wecken Emotionen. Etwa Sarah, die Schwester des verschwundenen Jannis, die verzweifelt ist wegen ihres Bruders und weil ihre Eltern für sie gar keinen Blick mehr haben – die in der gelesenen Szene aber auf kindliche Weise Hoffnung schöpfen darf. Oder Ben Nevens Kollege Lederer, die laut Wagner »heimliche Hauptfigur«, die Neven konterkarieren solle und der Inbegriff eines guten Polizisten sei. In dem Buch, in dem jede Gewissheit auf der Kippe steht, steht er dafür, dass Gewissheit und Verlässlichkeit möglich sind.

 

Überhaupt fällt der Begriff der Gewissheit recht oft an diesem Abend. Mehrfach betont Wagner, dass es sich im Kern um einen Roman über den »Verlust an Gewissheit« handele – und die Frage, ob Menschen sie zurückbekommen können. Er verorte sich nicht innerhalb eines gewissen Gattungsbegriffs, habe noch nie wirklich in Gattungen gedacht. Eigentlich habe er immer nur spannend erzählen wollen. In Bezug auf Sommer bei Nacht wollte er an Grenzen gehen, weil er das Gefühl hatte, dies sei nötig, um »Türen aufzustoßen«.

 

Und wie geht es nun weiter mit der Geschichte um Ben Neven und Christian Sandner? So viel wird an diesem Abend schon verraten, Bens Geheimnis kommt schlussendlich nicht ans Licht, obwohl es in der Geschichte einmal kurz davor ist. Es sei auf jeden Fall eine Reihe um die beiden Ermittler geplant, verrät Wagner. Allerdings wird es wohl kein von ihm selber gelesenes Hörbuch geben – mit dem Vorleser seiner bisherigen Bücher sei er sehr zufrieden gewesen und die Schauspielerei beim Einlesen liege ihm einfach nicht so.

 

(Isabelle Otto)


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