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Linus Reichlin|Señor Herreras blühende Intuition  

Galiani Berlin
272 Seiten
20 Euro
ISBN 978-3-86971-227-7

von Charlotte Knauth| Download

Señor Herreras blühende Intuition – Der Titel deutet es bereit voraus, Linus Reichlins 2021 veröffentlichtes Werk lässt die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen, und erschafft eine Welt, in der Fantasie und Fakt zu ein und demselben werden. Eine Geschichte, die womöglich sogar die eigenen Romanseiten überwindet und in die Welt der Leser*innen übergeht? 
Wegen seines zu hohen Ruhepulses sucht der Schriftsteller Leo Renz eine Auszeit in einem abgelegenen andalusischen Kloster. Hier will er endlich ein bisschen Ruhe, Zeit für Pilates und neue Inspiration finden. Doch bereits zu Beginn seiner Reise nehmen die Ereignisse eine unerwartete Wendung: Die Schwestern des Trappistinnen-Klosters leben in strenger Observanz, jeder Kontakt ist darum gänzlich untersagt. Leo Renz darf die Frauen, die ihm Vorbild für seine neue Romanfigur Lena Seidel sein sollten, nicht einmal sehen. Stattdessen ist er einzig mit Señor Juan Carlos Herrera, dem Gästeverwalter und Klosterkoch auf engstem Raum eingesperrt. Renz’ Romankonzept steht auf der Kippe, und die Idee von Lena Seidel, einer Frau, die vor ihrer dunklen Vergangenheit in ein Kloster fliehen und von nun an ein Doppelleben führen muss, droht verworfen zu werden. Bis er Señor Herrera von diesem Konzept berichtet und dieser erwidert: »Ich habe es geahnt. Ich hatte von Anfang an den Verdacht, dass mit ihr etwas nicht stimmt […]. Ich sagte, Señor Herrera, ich verstehe nicht, wovon Sie sprechen, mit wem stimmt hier etwas nicht?, fragte ich. Mit Schwester Ana María, sagte er, mit wem sonst«. Renz’ Romankonzept scheint in seine Realität überzugehen und allzu schnell verlieren Herrera und er sich in einer Suche nach Hinweisen, ohne Beweise. 
Das Werk beginnt stimmungsvoll, Beschreibungen der Natur, der Gerüche und Geräusche entführen die Leserschaft in die bergische Landschaft Spaniens. Die Abgeschiedenheit des Klosters zeigt die Eigenheiten der Protagonisten Renz und Herrera wie unter einem Vergrößerungsglas: Gefangen in einem ereignislosen Alltag und ohne Kontakt zu Außenstehenden bleibt den beiden nichts anderes, als sich mit den eigenen Makeln und den Makeln des anderen auseinanderzusetzen. Das Aufeinandertreffen der ungleichen Charaktere führt zu skurrilen Situationen, witzreichen Gesprächen und einer kulinarischen Reise, wie man sie gerade nicht unternehmen möchte.
Leider werden anderen Figuren innerhalb der Erzählung vernachlässigt und wirken bisweilen etwas oberflächlich und künstlich. 
Das Geschehen nimmt an Fahrt auf, vor allem wenn ein weiterer Gast das Kloster betritt. Auch die Interpunktion des Autors verleiht der Geschichte Rasanz. Reichlin unterscheidet nicht zwischen direkter und indirekter Rede; Aussagen und Gedanken, Fragen und Antworten gehen fließend ineinander über, und die Ereignisse erfassen die Leserschaft mit derselben Überforderung, wie die Figuren. Doch die Männer Renz und Herrera wiegeln einander zu schnell auf, radikalisieren einander schneller, als dass die Leserschaft folgen kann. Ab diesem Zeitpunkt sind die Reaktionen, Handlungen und Gedankengänge der Protagonisten nur noch schwer nachzuvollziehen, und scheinen vollkommen übereilt und plottreibend. 
Renz‘ Romanprojekt und Señor Herreras blühende Intuition, der Roman, den die Leserschaft selbst in den Händen hält, weisen immer mehr Parallellen auf. Schein und Sein verschwimmen, und gipfeln in einem Finale, dass nicht nur alle Ereignisse innerhalb des Romanes in Frage stellt, sondern auch die Realität der Leserschaft betrifft. Was hat es zu bedeuten, dass Autor Linus Reichlin und Protagonist Leo Renz dieselben Initialen haben, und wessen Leben wird schlussendlich wirklich studiert? Welchen Worten können die Leser*innen vertrauen und welchen nicht? Jede Aussage, die Protagonist Renz über sein Romanprojekt trifft, muss analysiert werden. Dass das Buch mit dem Ende seine ganze Bedeutung verändert, und Raum für eine alternative, ungehörte Geschichte öffnet, ist ein spannendes Element und zeigt das Talent des Autors. 
Zusammenfassend hat Señor Herreras blühende Intuition viel Potenzial zur Unterhaltung: Einige Figuren haben interessante Geschichten und Eigenheiten, die Handlung spielt an einem atemberaubenden Schauplatz, der Schreibstil des Autors ist ungewöhnlich und abwechslungsreich, und seine Idee, sogar die Welt der Leserschaft in das verworrene Netz der Halbwahrheiten hineinzuziehen, scheint vielversprechend. Doch leider kann all dieses Potenzial auf den 270 Seiten nicht in Gänze ausgeschöpft werden, stattdessen nimmt die Geschichte schnell eine Geschwindigkeit auf, bei der einige andere Aspekte, insbesondere die Nachvollziehbarkeit der Handlung, ab und an auf der Strecke bleiben.


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