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Lukas Bärfuss | Hagard 

Wallstein 2017
174 Seiten, 19.90 Euro
ISBN 978-3-8353-1840-3

von Lothar Schneider | Download

Ein Hagard, um vorab den Titel von Lukas Bärfuss' neuem Roman zu klären, ist ein Ausdruck aus der Falknersprache und bezeichnet einen schon ausgewachsenen wild gefangenen Vogel, der zur Jagd abgerichtet wurde. Kein Falke, meist ein Habicht. Der Leser, könnte man nun annehmen, folgt diesem metaphorischen Vogel bei der Jagd durch den Roman. Tatsächlich aber sind die Verhältnisse etwas komplizierter, obwohl der Text leicht, über weite Partien fast schwerelos zu lesen ist: Der Leser folgt einem unsicheren Erzähler, der wiederum folgt einem problematischen Protagonisten. So entsteht ein Spiel von Möglichkeiten, Vermutungen, Lösungen und Geschichten, das der Freiheit seiner Kombinatorik gleichermaßen verpflichtet bleibt wie der Stringenz des tatsächlichen Ablaufs.

Bärfuss hat ein Faible für ungewöhnliche Erzählkonstruktionen: In seinem ersten Roman, Hundert Tage, erzählt er die Geschichte des Völkermords in Ruanda aus der Sicht eines Entwicklungshelfers, der sich während der tragischen Ereignisse in seinem Haus verbirgt und nur Splitter des Geschehens wahrnimmt; im zweiten Roman, Koala, beschreibt der Erzähler im ersten Teil die Trauer um den Tod seines Bruders, der durch Selbsttötung ums Leben kam, bevor er im zweiten Teil durch die Beschreibung des Tieres, das dem Bruder als Totem seinen Pfadfindernamen lieh, näher zu kommen trachtet. Jetzt dagegen eine scheinbar konventionelle Erzählkonstruktion: Wir folgen einem Mann, der einer Frau folgt, die er nur von hinten gesehen hat, deren Gesicht er nicht kennt und über die er nichts weiss. Das klingt vielleicht nach postmoderner Artistik und ihrer Besserwisserironie, die Autor und Publikum in der Solidargemeinschaft der Schlauen zu versammeln liebt. Nichts wäre falscher: Die Versuchsanordnung des Textes zeichnet Bilder der Reise seines Helden, einer Reise, die einer inneren Notwendigkeit folgt, aber an jeder Station dennoch hätte anders entschieden werden können und in jeder getroffenen Entscheidung aufs Neue zufällig und unsicher bleibt.

Der Leser erlebt dies als Verführung zur Bedenklichkeit, als Lust, Alternativen zu sehen und Kontingenzen zu bedenken, wie sie der Text in seinem Verlauf beispielhaft anbietet. Man kann dabei an Sartres Theorie der Prosa als engagierte Literatur denken, die ja nicht meint, dass Literatur sich politisch engagieren solle, sondern dass sie immer schon engagiert sei, weil sie auf eine Welt verweist und nur in ihr bedeuten kann. Bärfuss dreht Sartres Blickrichtung um und bricht sie in doppelter Perspektive: Der Held zeigt sich widerspenstig gegen seinen Erzähler, der Erzähler breitet seine Karten vor dem Leser aus und relativiert die eigene Perspektive als persönliches und (im Wortsinn) will-kürliches Konstrukt. Die Geschichte wird dadurch zum Kreuzungspunkt einiger ausformulierter und vieler unausgesprochener Geschichten; der Text wird zur Textur, zum Gewebe erzählerischer Möglichkeiten. Das Erlebnis solcher Lektüre ist eine spielerische Verführung zur Bedenklichkeit. Und wenn Sie sich fragen, wie Sie mit dieser komplexen Konstruktion zurecht kommen sollen: Glauben Sie mir, es ist süß und angenehm, Bärfuss zu folgen!

(Lothar Schneider)


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