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Daniela Dröscher | Lügen über meine Mutter  

Kiepenheuer & Witsch 
441 Seiten
24 Euro

ISBN 978-3-462-00199-0

von Chiara Siebert| Download

 

Eigentlich hat Ela eine schöne Kindheit. Sie wohnt mit ihren Eltern in einem ruhigen Dorf und es mangelt ihr weder an Spielzeug noch an Zuneigung. Ela kann auch schon bis 100 zählen, bevor sie überhaupt in die Schule kommt. Das hat ihr ihr Vater beigebracht – Addieren wie er kann sie zwar noch nicht, dennoch weiß sie, dass ein Löffel Nutella 50 kcal hat, eine Ei 80 kcal und eine Scheibe Käse 100 kcal. Sie weiß früh, was eine Farbdiät ist oder eine „FDH“. Auch die Weight Watchers lernt sie in ihren ersten zehn Lebensjahren bereits kennen. Sie selbst ist jedoch gertenschlank, trainiert zweimal die Woche in einem Leichtathletikverein, spielt Tennis und macht so ihren Vater stolz. Deshalb nimmt er sie auch mit in einen Urlaub an die Ostsee. Ihre Mutter muss allerdings daheimbleiben. Sie ist zu dick. “Guck dich doch an“, sagte mein Vater scharf. „Wie du schon wieder aussiehst“ (S. 65). Worte, die sich Elas Mama tagtäglich anhören muss, gefolgt von weiteren Demütigungen, in denen sich beispielsweise die Ehefrau jeden Tag vor ihrem Mann auf die Waage stellen und sogar Erpressungsmaßnahmen hinnehmen muss, damit sie „endlich“ abnimmt“. Es dreht sich alles um ihren Körper – und der ist auch an allem schuld: dass ihr Mann keine Beförderung erhält, dass kein Geld da ist, an der kriselnden Ehe… die Liste ist endlos. Das bleibt auch der kleinen Ela nicht verborgen. Sie steht stets zwischen den Fronten der Eltern, erlebt wie oft, wenn sich die Eltern streiten und wie schlecht ihre Mutter vom Vater behandelt wird.

Vielleicht ist das ein Grund, weshalb sich Ela später dazu entschließt, ein Buch über ihre frühe Kindheit und ihre Mutter zu schreiben. Die Geschichte beginnt, da ist die Protagonistin gerade mal vier Jahre alt. Der Autorin gelingt es hervorragend, den Zeitgeist der Vierjährigen einzufangen.

Das Mädchen weiß von dem Familienstreitigkeiten, weiß, dass ihre Mama anscheinend zu dick ist, doch verstehen, was dahintersteckt, tut sie nicht. Schließlich ist ihre Mama doch immer liebevoll zu ihr und ihrer Puppe Iwona. Doch als Ela älter wird, beginnt sie die Ehe ihrer Eltern zu reflektieren, allerdings auch die Figur ihrer Mutter. Sie bemerkt, wir ihr Po über die Autositze hinausgeht, bemerkt die verurteilenden Blicke von Fremden, die an dem Körper der Mutter haften bleiben. Letztlich beginnt auch die Tochter sich zu schämen. Doch mit der Scham wird Ela auch klar, wie sehr ihre Mutter in der Ehe gefangen ist und wie sie sehr darunter leidet. Mit dem Älterwerden der Protagonistin ändert sich auch der Schreibstil in der Geschichte. Sicherlich bleibt er kindlich, denn der Roman endet, als Ela ca. 11 oder 12 Jahre alt ist, doch der Leser oder die Leserin merkt schnell, dass sie anfängt, ihr Umfeld zu hinterfragen.

Die Erzählung ist in unregelmäßigen Abständen gespickt von Einblicken aus der Gegenwart. In diesen erklärt die nun erwachsene Ela nicht nur, wie sie rückblickend auf ihre Kindheit schaut, es wird auch der zeithistorische Hintergrund erläutert, vermutlich um zu zeigen, wie wenig Chancen Elas Mutter hatte ihrer Ehe zu entkommen. Denn die 80er Jahre – besonders auf dem Dorf – waren durchaus noch Zeiten, in denen eine Scheidung ein Skandal war. Zudem war eine Scheidung für eine Frau mit zwei Kindern praktisch unmöglich, durch die ungleichen Gehälter zwischen Mann und Frau und dem patriarchalen Auftreten der Ehemänner.

Lügen über meine Mutter ist ein Roman, der vor allem die Hoheit der Frau über ihren eigenen Körper thematisiert. Daneben geht es aber auch um die Gefühlwelt der Protagonistin und wie sie mit den Familienverhältnissen zurechtkommt und daraus lernt. Ein Buch, das definitiv zum Nachdenken anregt.

Am Ende bleibt nur noch die Frage, ob es Elas Mutter gelingt den jahrelangen Kampf über ihren Körper zu gewinnen. Soviel nur schon mal vorab, sie selbst beschreibt sich in dem Roman als „zu dick“ und vor allem „zu schwach“. Doch das Gegenteil ist der Fall. Elas Mutter ist eine starke Frau, die ihren Kampf für die eigenen Unabhängigkeit nicht aufgibt.

                                                                                                  Chiara Siebert


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