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Lorraine Daston| Regeln eine kurze Geschichte 

Suhrkamp Verlag

432 Seiten
34 Euro
ISBN 978-3-518-58804-8

von Lothar Schneider

Sie kommen an eine Fußgängerampel. Die Ampel ist rot, weit und breit niemand in Sicht. Gehen oder stehenbleiben? Sie schauen schnell nach links und rechts; sie gehen. Was haben Sie getan? Zunächst: Die Straßenverkehrsordnung sagt, bei Rot stehen bleiben, bis die Ampel auf Grün wechselt. Dann gehen. Sie haben also gegen die Straßenverkehrsordnung verstoßen – gegen ein Gesetz, wenn man den Begriff in weitem Sinn interpretiert, auf jeden Fall gegen eine Regel. Aber auch mehr als das: Sie haben die Gültigkeit der Regel (rot stehen – grün gehen) selbst abgelehnt und damit den Raum des geordneten Verhaltens überschritten. Kurzzeitig befanden sie sich in der Wildnis: Hier regierte der Stärkere, sie waren nur ein gefährdetes Tier beim Überqueren einer Lichtung, bedroht von Raubtieren wie Lkws, Pkws, Motorrädern und Pedelecs. Vielleicht sogar von Fahrrädern. Sie waren heldenhaft; es ist gelungen. Sie fühlen sich gut, den Niederungen der Herdentiere enthoben. Mit einem Wort: souverän – und schauen sich um: Beifall? Bewunderung? Da entdecken sie eine Frau mit einem Kleinkind an der Hand auf der anderen Straßenseite. Sie meinen, Verachtung in ihrem Blick zu spüren, Interesse im Blick des Kindes. Sie fühlen sich plötzlich schlecht, ein Anflug von Scham befällt sie. Warum das jetzt? Weil sie sich nun nicht mehr in ihrer Selbstmächtigkeit wahrnehmen, sondern als soziales Wesen, dessen Handeln nicht nur egoistischen Impulsen unterliegt, sondern eine eigene Bedeutung im Rahmen seines sozialen Kontexts hat: Ihr Verhalten ist auch ein Beispiel – und das Beispiel, das Sie gegeben haben, ist schlecht, weil es evtl. das Kind, das wie alle Kinder imitatorisch lernen will, gefährdet. Die Mutter hatte also alles Recht, sie mit Verachtung zu strafen. Bedröppelt schleichen sie nach Hause und vergraben sich in ein Buch. Wenn sie sich dabei nicht nur ablenken, sondern verstehen wollen, was eben vor sich gegangen ist, wäre Lorrain Dastons Regeln eine gute Wahl.

In ihrem flüssig geschriebenen und unterhaltsam zu lesenden Sachbuch zeichnet Daston, die von 1995 bis zu ihrer Emeritierung 2019 Direktorin des Max-Planck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte in Berlin war, unseren Umgang mit Regeln nach, zeigt, wie er uns oft lästig, aber doch unverzichtbar ist. Dabei illustriert sie anhand historischer Projekte von der Antike bis zur Gegenwart, von der klösterlichen Ordnung des Mittelalters (gelungen) über die Regulierung der Mode der Renaissance (gescheitert), die Ordnung des Stadtlebens in der Aufklärung (Teilerfolg), die Normierung der Nationalsprachen (in Aspekten anhaltend strittig) und die Mechanisierung der Wirtschaft (weitgehend erfolgreich) Schwierigkeiten ihrer Durchsetzung, Bedingungen ihres Scheiterns oder ihres Erfolgs sowie Probleme, die sie im Erfolgsfall nach sich ziehen.

Daston unterscheidet drei idealtypische Regelformen: Modelle, Gesetze und Algorithmen. Die ersteren bieten den LeserInnen ausführliche Beschreibung, verlangen aber interpretatorische Kompetenz in der Unterscheidung von wesentlichen und unwesentlichen Merkmalen bei der Übertragung durch Analogie; Gesetze dagegen sind möglichst ‚dünn‘ in der Formulierung, dafür aber apodiktisch in ihrem Geltungsanspruch und bereiten ‑ wie die florierende Berufsgruppe der JuristInnen belegt – Probleme in der Anwendung. Algorithmen schließlich ‚leben‘ davon, dass sie Probleme handhabbar machen, in dem sie diese in mechanische Schritte zerlegen. Damit sind sie zwar einfach bedienbar – und buchstäblich billiger im Personal, wie Daston zeigt –, aber die Übersicht über Sinn und Ziel des Verfahrens geht tendenziell verloren, wie sie mit deutlichen Seitenblicken auf die Gegenwart von Datenverarbeitung, Bürokratie und die Handhabung aktueller Krisen illustriert. Eine durch Algorithmen bestimmte Wirklichkeit (wie zunehmend unsere), so Daston in ihrem Epilog, suggeriert »dass eine erfolgreiche – langsame, in Schüben erfolgende, fragile, partielle, aber reale – Schaffung von Inseln der Gleichförmigkeit, Stabilität und Vorhersagbarkeit den Traum begünstigte, es gäbe Regeln ohne Ausnahmen, ohne Mehrdeutigkeit, ohne Biegsamkeit.« (S. 327) Daran glaubt Daston offensichtlich nicht – und so wenig wir auf Regeln verzichten können, so wenig können wir ihrer Meinung nach darauf verzichten, sie in Frage zu stellen, abzuwägen und besonnen anzuwenden, wenn ein Problem aufbricht.


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