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Isabel Bogdan|Laufen 

Kiepenheuer & Witsch
208 Seiten
20 Euro
ISBN 978-3-462-00158-7

von Melanie Kuhnert

Erstarrung, Flucht und Kampf - das sind die neurobiologischen Reaktionen auf Stresssituationen. Nach dem Suizid ihres langjährigen Partners verharrt eine Frau, Anfang 40, ein Jahr lang in der Erstarrung. Um ihren seelischen Schmerzen zu entkommen, beginnt sie zu laufen und nimmt somit ihren persönlichen Kampf zurück ins Leben auf. Diesen Weg sowie die innere und äußere Entwicklung der Protagonistin erzählt die Autorin Isabel Bogdan mit Humor und Feingefühl in ihrem neuen Roman Laufen.

Anfangs kann die Protagonistin beim Laufen keinen klaren Gedanken fassen, klagt über physische Schmerzen, ringt mit ihrer Motivation und der Sinnhaftigkeit des Laufens. Die körperliche Anstrengung zwingt sie dazu, sich auf das Existenzielle des Lebens zu fokussieren – ihre Atmung: »Alles, was ich über das Laufen weiß, ist, dass man gleichmäßig atmen soll, doppelt so viele Schritte ausatmen wie ein, ich atme zwei Schritte ein und vier aus, ein ein aus aus aus aus« (S. 10). Immer, wenn sie erschöpft ist oder ihre Gedanken sich im Kreis drehen, besinnt sie sich auf ihren Atemrhythmus und zwingt sich, langsamer zu laufen. Die Fokussierung auf grundlegende körperliche Funktionen bietet eine willkommene Ablenkung von dem dauerhaften Schmerz, dem Abgrund, der vor einem Jahr in ihr Leben trat. Die Frage, was wohl die Passant*innen über sie denken und welche Beweggründe andere Läufer*innen antreiben, lenkt sie gleichermaßen von ihrem eigenen Zustand ab. Allerdings erkennt sie bald, dass sie dabei ihren eigenen Schmerz und ihre eigenen Sehnsüchte auf ihr soziales Umfeld projiziert.

Parallel zu ihren Lauffortschritten schreitet auch die Verarbeitung ihrer Gefühle voran. Gedanklich lässt sie ihre zehnjährige Beziehung Revue passieren, wobei der Schmerz über das, was ihr nun fehlt, allgegenwärtig ist. Gleichsam erkennt sie, dass ihre Beziehung schon lange an den Auswirkungen der Erkrankung ihres Partners in die Brüche gegangen ist. Die Antriebs- und Lustlosigkeit, bedingt durch die Depression, hing nicht nur über ihm wie schwarze Wolken, sondern auch über der Beziehung. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Arbeitszeiten verbrachten die beiden nur bedingt den Alltag zusammen. Zusätzlich belasteten der unerfüllte Kinderwunsch und eine Affäre das partnerschaftliche Miteinander.

Nach monatelagen Selbstvorwürfen, weil sie nicht erkannt hat, wie schlecht es ihrem Partner ging, wächst ihre Wut auf ihn zunehmend, sie allein gelassen zu haben. Wut ist auch das dominierende Gefühl in der Beziehung zu ihren Schwiegereltern, die, auf ihren eigenen Schmerz fokussiert, Beerdigung und Erbe organisieren, ohne sie einzubeziehen. So haben die Eltern beispielsweise das Eigentum des Verstorbenen aus der gemeinsamen Wohnung des Paares geholt und die Entscheidung bezüglich der Grabgestaltung allein getroffen. Im Gegensatz dazu hat die Autorin ihrer Protagonistin mit Rike, der besten Freundin, und Frau Mohl, der Therapeutin, zwei charakterstarke Persönlichkeiten an die Seite gestellt. Beide sind für sie da, hören ihr zu, fangen sie auf und geben Impulse für Veränderungen. Mit der fortschreitenden Verarbeitung des Verlustes erlaubt sich die Protagonistin wieder, Freude zu empfinden, auch der Wunsch nach Nähe und Intimität entwickelt sich allmählich erneut. Sie reflektiert die Veränderungen in ihrem Leben und deren konkreten Auswirkungen. Auch der Erfolg beim Laufen spielt eine bedeutende Rolle, da sie sich neue Ziele setzt und Dinge erreicht, von denen sie zuvor nicht geglaubt hat, diese erreichen zu können.

Da die Erzählung im Kopf der Protagonistin stattfindet, ist der Erzählstil von einer assoziativen Struktur geprägt, welche die Einsamkeit und Isolation der Protagonistin sowie ihre Gedanken widerspiegelt. Dies verleiht der Erzählung einen ausgeprägten mündlichen Erzählstil. Darüber hinaus zeichnen sich Wiederholungen und Schleifen als charakteristische Merkmale des Romans aus, der dem Verarbeitungsprozess der Protagonistin sehr nahekommen. Dennoch ermöglicht das Laufen einen Ausweg aus diesen wiederholenden Mustern, was sich auch auf die Sprache auswirkt. Die Sätze werden länger und komplexer, die Wiederholungen geringer. Das Fortschreiten der Zeit wird durch ihre Gedanken während des Laufens erzählt, in denen sie reflektiert, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Zudem ist die Sprache reich an Metaphern mit wiederkehrenden Motiven. Die Erzählerin spricht beispielsweise von einem Friesennerz, den sie nach und nach ablegt.

Die Autorin behandelt ein bedeutendes, in unserer Gesellschaft oft tabuisiertes Thema: psychische Erkrankungen, die im schlimmsten Fall zu Suizid führen können. Dies lässt sowohl Angehörige als auch andere Betroffene hilflos, wütend und mit Selbstvorwürfen behaftet zurück. In Laufen wird ein möglicher Umgang mit dem Verlust und der damit verbundenen Emotionen dargestellt. Gleichsam bietet das Umfeld der Protagonistin auch eine Perspektive, wie Angehörige unterstützt werden können, damit die Lebendigkeit der Betroffenen nicht für immer verloren geht.

Ungeschönt, auf eine ehrliche Weise, aber dennoch mit Humor und einer gewissen Leichtigkeit erzählt die Autorin von den Schmerzen und der Trauer, die mit einem existenziellen Verlust einhergehen. Der assoziative Schreibstil mildert in gewisser Weise die Schwere der Thematik, da die Protagonistin sich manchmal nicht allzu ernst nimmt. Bogdan präsentiert eine einfühlsame und realitätsnahe Erzählung, die die gesamte Bandbreite der Emotionen und der emotionalen Leere nach dem Verlust aufzeigt. Eine Geschichte, die Hoffnung gibt und zeigt, dass es möglich ist, nach einem schweren Verlust weiterzuleben und wieder Freude zu empfinden, ohne dabei zu romantisieren.


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