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Gerhild Stoltenberg | Überall bist du 

Hoffmann und Campe 2017
272 Seiten
20 Euro

ISBN 978-3-455-60059-9

von Lena Wenzel | Download

Seit Tom aus ihrem Leben verschwunden ist, scheint Martha wie entwurzelt zu sein. Sie schafft es keinen Tag, nicht an ihn zu denken. Tom ist überall, nahezu jede Situation erinnert sie an ihn. Für Glücksmomente sorgen einzig der fünfjähre Oskar und seine kleineren Geschwister Nippon und Beppi, auf die Martha seit kurzem aufpasst. Deren Mutter Stella hat sie zufällig auf der Straße kennengelernt. Mit ihrer fantasievollen Sicht auf die Welt verändern die Kinder Marthas Leben. Und doch sind die Stunden mit ihnen nur Glücksmomente. In den anderen ist sie unglücklich. Sie schafft es nicht, ihre Vergangenheit mit Tom hinter sich zu lassen, bis sie eines Tages eine Entscheidung trifft, die alles verändert. 

Überall bist du von Gerhild Stoltenberg ist eine Geschichte, die vom Loslassen handelt. Eine junge Frau muss lernen, ohne ihre große Liebe zu leben. Zuerst geht man als Leser*in davon aus, Marthas Partner sei verstorben. Doch Tom, der eigentlich gar nicht Tom heißt, hat sie vom einen auf den anderen Tag sitzen lassen. Sie würde es nicht schaffen, ihn bei seinem Namen zu nennen »ohne an diesem ekligen Kloß Heulerei zu ersticken«, deshalb nennt sie ihn Tom.

Die Handlung beginnt in Belgrad, die Ich-Erzählerin diskutiert mit sich selbst, wie sie dort gelandet ist. »Ich musste weg, denn egal in welche Richtung ich zu Hause auch hätte gehen können, überall wäre ich schon mit ihm gewesen. […] Alles war mit Erinnerungen vergiftet.« Es folgt ein zeitlicher Sprung in die Vergangenheit. In die Zeit, in der Martha als Babysitterin anfing und noch mit Tom liiert war. Der Leser erfährt mehr über ihre Beziehung, in der dann  plötzlich Funkstille zwischen den beiden herrschte. Geschickt baut die Autorin immer wieder Erinnerungen der Protagonistin an Tom in die eigentliche Handlung ein. So ist Martha zum Beispiel mit Oskar, Nippon und Beppi auf dem Spielplatz und schaut ihnen beim Spielen zu, im nächsten Moment geht es um Tom. »Diesmal saßen zwei ältere Damen auf einer der Bänke […] und sie nickten mir zu. Sehr huldvoll. Das gefiel mir. Ich mochte es, wenn Beziehungen erstmal einen gewissen Abstand behielten, nicht alles sofort sein Geheimnis verlor. Mit Tom war das auch immer ein wenig so gewesen. Als würden wir nicht die gleiche Muttersprache sprechen […].« Dieser Stil durchzieht das Buch. Je mehr Erinnerungen Martha mit dem Leser teilt, desto weniger kann man glauben, dass sie mit Tom wirklich glücklich war. 

Abwechslung zum Liebeskummer der Protagonistin bieten die Textabschnitte, in denen Marthas Zeit mit den Kindern beschrieben wird. Die Autorin schreibt sie mit einer gewissen Leichtigkeit und weckt damit Erinnerungen an die eigene Kindheit. Unrealistisch wirken dagegen manche Äußerungen des fünfjährigen Oskars, da er für das Alter sehr weise dargestellt wird.

Martha nimmt alles, wie es kommt. So lebt sie in einer Wohnung, die einst ihrer Schwester gehörte, und übt seit Jahren einen Job aus, den sie nicht mag. Auch in die neue Aufgabe des Babysittens ist sie eher herein gerutscht. Doch dann stellt die neue Aufgabe ihr Leben auf den Kopf.  »Kinder um sich zu haben ist, wie verliebt zu sein. In die Kinder, aber auch und vor allem in das Leben. Es juckt plötzlich am Rücken, an der Stelle, wo man als Kind meinte, doch auf jeden Fall Flügel zu haben. Man erinnert sich an all die guten Dinge, die das Leben ausmachen sollte.«

Gerhild Stoltenberg erzählt eine Geschichte aus dem alltäglichen Leben, die leider ein abruptes Ende findet. Seiten über Seiten ist der Leser mit dem Herzschmerz der Protagonistin konfrontiert, so lange, bis es schon etwas nervig wird. Die Handlung ist ruhig, Spannung gibt es keine. Und erst als die Geschichte wieder in Belgrad einsetzt, entwickelt sich Marthas Charakter weiter. Und dann geht alles rasend schnell, zu schnell: Martha findet zurück in ein normales Leben, frei von Liebeskummer.

(Lena Wenzel)


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