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Fatma Aydemir | Dschinns 

Hanser Berlin 2022
368 Seiten
24 Euro

ISBN 978-3-446-26914-9

von Sandra Binnert| Download

Wenn jemand stirbt, dann bleibt etwas. Ein Erbe, ein geliebtes Erinnerungsstück, etwas, worauf eine individuelle Bedeutung projiziert werden kann, manchmal eine Geschichte, genauer eine Familiengeschichte, die von Generation zu Generation erzählt wird. Perihan sieht das anders, ihre Familie hat ja noch nicht einmal eine Geschichte. Also eigentlich schon, aber was gibt es zu erzählen, wenn der Vater nur arbeitet und wie eine leere Hülle im Sessel sitzt und die Mutter nur damit beschäftigt ist, ihre Kinder großzuziehen? Fatma Aydemir zeigt, dass es da vieles gibt, was man erzählen kann. Wie vielschichtig Familien sein können, wie sich die deutsche Gesellschaft den sogenannten Gastarbeitern gegenüber verhält, wie Aufstiegswünsche erfüllt werden können und was Eltern zu dem macht, was sie sind. 

Hüseyin träumt von einer wunderschönen Wohnung in Istanbul. Endlich hat er genug zusammengespart, um sie sich leisten zu können. Er steht in der Wohnung und träumt davon, sie seinen Kindern und seiner Frau Emine zu präsentieren, er sieht sie vor sich, er hat alles geplant, endlich haben sich die vielen Stunden in der Fabrik mit Feiertagsschichten, Überstunden und Wochenendschichten in Deutschland gelohnt. Bis der stechende Schmerz kommt und Hüseyin am Tag des Einzugs in der neuen Wohnung stirbt. Jetzt muss alles schnell gehen, denn traditionell wird der Leichnam am gleichen Tag beigesetzt und die gesamte Familie hält sich noch in Deutschland auf. 

Der Roman wird aus der Perspektive der zurückgelassenen Familienmitglieder erzählt, die unterschiedlicher kaum sein können: Sevda, die älteste Tochter, lebt mit ihren zwei Kindern über dem Laden, den sie mit viel Herzblut betreibt. Sie ist als Analphabetin nach Deutschland gekommen und möchte ihren Kindern eine andere Welt bieten. Sie träumt davon, eine erfolgreiche und glückliche Karrierefrau zu sein, doch immer wieder stellt sich ihr Gewissen und ihr schwieriges Verhältnis zu ihren Eltern ihr in den Weg. Hakan hat seine eigenen Probleme, immer wieder fühlt er den Zwang, sich beweisen zu müssen. Er wurde früh mit seinem Anderssein in Deutschland konfrontiert. Schon als Jugendlicher wird er für ein kleines Vergehen stark von der Polizei traumatisiert. Sein Vater hat in dem Moment keine Handlungsoptionen und offenbart Hakan seine gesamte Machtlosigkeit – ein Moment, den er nie vergessen kann. 

Perihan ist politisch und queer, ihr Studium in Frankfurt hat sie sehr geprägt. In der Kneipe, in der sie arbeitet, lernt sie einen interessanten jungen Mann kennen. Manchmal braucht es zufällige Begegnungen, um sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Warum spricht eigentlich niemand mehr in ihrer Familie kurdisch? Ist sie Kurdin? Wie steht sie dann zu der Türkei und was macht das eigentlich mit ihrem Pazifismus? 

Ümit ist der jüngste Sohn und mitten in der Pubertät, er kann die Situation kaum verarbeiten und weiß überhaupt nicht, wie er sich verhalten soll. Ümits Welt steht sowieso schon Kopf, wie soll er sich denn jetzt noch orientieren und was wollte sein Vater eigentlich in dieser Stadt, die ihm selbst so fremd ist? Die Situation spitzt sich zu, als alle in der für sie vorgesehenen Wohnung aufeinandertreffen und Emine zieht eine Bilanz ihres Lebens. 

Aydemir schafft es, Figuren so lebendig und nah zu schreiben, dass man als Leserin ihre Gefühle und Gedanken nachvollziehen kann. Die Zufälligkeit der Verwandtschaft wird greifbar, die ungesagten Worte, die zwischen den Generationen stehen, werden mit jeder Seite spürbarer. Der Roman bietet Einblicke in den Sexismus, Rassismus und Klassismus der späten neunziger Jahre und zeichnet die Veränderungen der intersektionalen Verschränkungen in jeder Figur individuell und eindrücklich nach. 

Neben der politischen Aktualität besticht der Roman mit einer präzisen und feinfühligen Sprache mit viel Detail zu den biographischen Entwicklungen der Figuren. Aydemirs zweiter Roman spielt zwar in den späten neunziger Jahren, ist aber aktueller denn je. Er bietet Anknüpfungspunkte, die die Leserin dazu anregen können, sich weiter mit der Geschichte einer großen gesellschaftlichen Gruppe in Deutschland auseinanderzusetzen. 

 

 

Sandra Binnert


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