Dresden. Die zweite Zeit. Lesung und Gespräch mit Kurt Drawert 

 © Hannah Brahm © Hannah Brahm

Freitag, 7.6., 19 Uhr

Hermann-Levi-Saal
(Konzertsaal)
Rathaus
Berliner Platz 1
35390 Gießen

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Veranstaltungsbericht:

Vor gespanntem Publikum fanden am 7.6.24 Lesung und Gespräch mit Kurt Drawert auf der Bühne des Hermann-Levi-Saals statt. Die Vorsitzende der Kempowski-Gesellschaft, Julia Stein, führte mit anregenden und reflektierenden Nachfragen durch den Abend und bot dem Publikum zusammen mit Drawert einen Einblick in dessen Leben und Werk.

Drawert schilderte, wie er dazu kam, Dresden. Die zweite Zeit zu schreiben. 2018 war er Stadtschreiber in Dresden geworden und kehrte so nach 50 Jahren in die Stadt seiner Jugend zurück. Im Gepäck hatte er viele Fragen: Wie hat sich Dresden verändert? Wie würde er auf die Konfrontation mit der eigenen Familiengeschichte reagieren? Und wie konnte es sein, dass dort eine Gruppe wie die Pegida entstanden war? »Ich suche nach etwas, von dem ich nur weiß, dass es mir fehlt«, waren die Worte, mit denen er seine Geschichte beginnen wollte.

Recht schnell stand die Frage nach der eigenen Heimat im Raum und ob Drawert Dresden als seine Heimat betrachte. Dies verneinte er und schilderte, wie er erst im Alter angefangen hatte, Heimatgefühle an Landschaften und weniger an Orte zu knüpfen. Doch eines zeichnete sich für ihn schon seit seiner Jugend ab: »Heimat ist meine Sprache. Da, wo ich meine Sprache finde, bin ich zuhause.« 

Nachdem Drawert den ersten Abschnitt aus seinem Roman gelesen hatte – eine Stelle, in der der Ich-Erzähler in das Haus seiner Mutter zurückkehrt – stellte sich die Frage nach dem Verhältnis von Erzählers und Autor. Es läge zwar nahe, die beiden gleichzusetzen, aber das lehne Drawert ab, wie er betont. Zwar habe er das Buch auf Grundlage seiner Erfahrungen und Erinnerungen geschrieben, doch die Vergangenheit könne täuschen. Nach so vielen Jahren sei es nahezu unmöglich, ein adäquates Bild der »vergangenen Wirklichkeit« zu geben. Aus diesem Grund sei sein Werk als autofiktional zu betrachten, als ein Wechselfeld zwischen Realität und Erfindung.

Dass seine eigenen Erfahrungen eine große Rolle spielen, zeigte sich vor allem in der Reflexion über politische Systeme und seine Bürger. Das Aufwachsen in der DDR und das Leben mit einem gewalttätigen Vater zwangen Drawert schon früh zur Reflexion über die Rolle des Individuums in einem System und so wurde der Vater für ihn zum Sinnbild des Machtapparats, dem er selbst widersprach. Denn während die Truppen durch Dresden zogen und die Bevölkerung ihnen zuwinken sollte, haderte er mit sich. Er wusste: sie ziehen einem möglichen Krieg entgegen. Er begann, Freud und Hesse zu lesen und je mehr er las, desto weiter entfernte er sich vom System, bis er sich schließlich sogar weigerte, zur FDJ zu gehen – ein Schritt, der ihm den Weg über das Abitur zum Studium verwehrte. So schlug er sich als Hilfsarbeiter durch, um das Abitur an der Abendschule nachzuholen. Bildung und Literatur blieben dabei stets sein Notanker.

Bis zum Ende des Abends blieb die Frage präsent, wie Dresden zum Zentrum rechtspopulistischer Gruppen wie der Pegida werden konnte, doch darauf konnte Drawert weder sich selbst noch dem Publikum eine Antwort geben. Jene Gruppen verbinde eine »Ansammlungen an Unbehagen, das selbst keine Sprache hat.« Dieses Unbehagen mische sich mit angestauten Emotionen und richte sich gegen alles, was anders ist oder Unsicherheiten mit sich bringt.  

Trotz vieler schwerer Themen an diesem Abend teilte Drawert auch seine Freude über den Walter-Kempowski-Preis, den er 2021 für seine Werke erhalten hatte. Denn er kannte Kempowski persönlich und wurde mit dem Preis für das ausgezeichnet, was seine Werke ausmacht und ihm am wichtigsten ist: Die Beschreibung des Einflusses, den ein System auf Individuen haben kann, im Positiven wie im Negativen.

Eine Veranstaltung in Kooperation mit der Kempowski-Gesellschaft e.V.

 

von Samira Sippel

 


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