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Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo | Der freie Hund - Commissario Morello ermittelt in Venedig 

Kiepenheuer & Witsch
336 Seiten
16 Euro

ISBN 978-3-463-00147-1

von Fabian Seelbach| Download

 

Von Palermo bis Venedig: Der Cosa Nostra auf der Spur

Wolfgang Schorlau erlangte besonders durch seine Kriminalromane um den Privatermittler Georg Dengler Bekanntheit. Die Dengler-Romane, in denen Schorlau politische und gesellschaftliche Missstände kritisiert und mit erfundenen Kriminalgeschichten verwebt, waren bereits Grundlage für Verfilmungen durch das ZDF. Gemeinsam mit Claudio Caiolo, beleuchtet Schorlau in der neuen Roman-Reihe um den Kommissar Antonio Morello nun die politisch-gesellschaftlichen Verhältnisse Italiens und die Verstrickungen von Cosa Nostra, Justiz, Politik und Wirtschaft.

„Cazzo!“ (S. 9). Die Glocken des nahegelegenen Kirchturms läuten, der müde Blick wandert auf das Smartphone-Display: 6 Uhr. Der Kampf gegen sich selbst, die Lustlosigkeit und die Bettdecke beginnt… „Zu früh zum Aufstehen, zu früh zum Frühstücken, zu früh zum Schimpfen, zu früh für alles. […] Cazzo …“ (S. 9 f.).

Antonio Morello, ein Kommissar von Sizilien, wacht in Venedig, der Stadt, in die er zu seiner eigenen Sicherheit versetzt wurde, an seinem ersten Arbeitstag an neuer Wirkungsstätte auf. Mürrisch und fluchend, er mag weder die frühe Uhrzeit noch seinen neuen Arbeitsort, quält er sich aus dem Bett. In seiner süditalienischen Heimat hatte er der Cosa Nostra durch erfolgreiche Ermittlungen und zahlreiche Festnahmen dermaßen zugesetzt, dass er sich schon bald auf ihrer Todesliste wiederfand. In Venedig, wo ihm von Beginn an alles missfällt, soll er in Sicherheit und mit Abstand zur Mafia die Leitung der Abteilung für Gewaltverbrechen übernehmen. Diese Aufgabe stellt sich jedoch als sehr viel fordernder heraus, als zunächst gedacht: Nicht nur, weil Morello seine Heimat vermisst und viel lieber dort die Jagd auf die Mafia fortsetzen würde, sondern auch weil seine venezianischen Kollegen ihren inneritalienischen Rassismus sowie darüberhinausgehende persönlich begründete Aversionen gegen ihren neuen Vorgesetzten aus Sizilien offen zeigen und ausleben.

Als dann ein Student ermordet wird, der sich zuvor als Anführer einer Gruppe gegen Kreuzfahrtschiffe in Venedig in der Öffentlichkeit präsentiert hatte, muss Commissario Morello allen inneren und äußeren Widrigkeiten zum Trotz die Ermittlungen aufnehmen, wobei er mehr und mehr feststellen muss, dass er seine Vergangenheit und seine ihn plagenden Erinnerungen nicht auf Sizilien zurückgelassen hat, sie verfolgen ihn, auch in der „schönsten Stadt der Welt“.

Ein großer Teil der Leserschaft dürfte die Situation, den morgendlichen Kampf des frühen Aufstehens, nur zu gut kennen und somit verständnisvoll mitleiden, wenn sie mit dem missmutigen Antonio Morello in den neuen Tag starten. Und, so paradox es zunächst klingt, dieser offen mürrisch-fluchende Missmut des Commissarios, lässt ihn bereits nach wenigen Zeilen sympathisch wirken: menschlich, emotional, nachvollziehbar und dabei zugleich alles andere als unfreundlich seinen Mitmenschen gegenüber. Es ist ein humorvoller Einstieg, der durch Schimpfen und absurde Gedankenspiele beim morgendlichen Blick aus dem Fenster einen alltäglichen und oberflächlich langweiligen Akt zu einem interessanten werden lässt, der zugleich eine Verbindung zwischen Lesendem und Figur erschafft sowie Humor und Denkvorgänge Morellos andeutet: „Der Turm der Basilica di San Pietro di Castello steht schief und neigt sich gefährlich in seine Richtung. Wenn er kippt, wird er die Schindeln des Daches und die Decke seiner Wohnung durchbrechen. Die Glocken werden in sein Schlafzimmer stürzen und ihn erschlagen. Unausweichlich. Doch andererseits: Der Turm steht schon einige Hunderte Jahre schief. Morello kratzt sich am Kopf. Das ist gut zu wissen, aber noch lange keine Garantie, dass er nicht gerade jetzt umfällt“ (S. 10).

Wie man Morello durch den Prozess des Aufwachens und Aufstehens folgt, so folgt man ihm auch durch die Gänge, Kanäle und über die Brücken der Lagunenstadt, stets so detailliert und klar erzählt, dass man das Gefühl hat, man könne sich nach der Lektüre des Werks, welches an diesen Stellen beinahe wie ein in eine Kriminalgeschichte verpackter Reiseführer wirkt, selbst den Weg durch die „Durchlauchtigste“ bahnen. Das Venedigbild, angereichert mit unter Touristenmassen beinahe ächzenden Brücken und Kreuzfahrtschiffen, die ihre Schatten über die Dächer der Stadt werfen, das Schorlau und Caiolo dabei zeichnen, lässt sich nahtlos mit bestehenden Venedig-Klischees, jedoch ebenso mit den Erfahrungen eines realen Venedigbesuchs, zusammenfügen. Die Autoren zeigen gekonnt, eng verknüpft mit der sich entwickelnden Kriminalgeschichte, die gesellschaftlichen und politischen Missstände Italiens, besonders Venedigs, auf. Dabei ist die Geschichte nicht von Anfang bis Ende hochspannend, was jedoch nicht negativ ins Gewicht fällt, da die ruhigen Dialoge und Erläuterungen zur Verstrickung von Cosa Nostra, Politik und Wirtschaft interessant und fesselnd geschrieben sind. Die Autoren lassen sich im ersten Band der Morello-Reihe Zeit, um ein eindrucksvolles Bild der Handlungsräume und die „Geister der Vergangenheit“ Morellos Stück um Stück aufzubauen und aufzudecken. Hinzu kommt: Wer kein Experte für Cosa Nostra, Italien und dem Verhältnis zwischen Nord- und Süditalienern ist, jedoch Interesse daran hat, wird viel Neues erfahren und lernen können und zudem zur weitergehenden Recherche angespornt werden.

Über die Autoren: Wolfgang Schorlau (*1951 in Idar-Oberstein, Rheinland-Pfalz) lebt als freier Schriftsteller in Stuttgart. Für sein Werk erhielt er bereits zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den Deutschen Krimipreis (2006), den Stuttgarter Krimipreis (2012, 2014), den Stuttgarter Ebner-Stolz-Wirtschaftskrimipreis (2019) und den Rheinbacher Glasdolch für sein Gesamtwerk (2019). 2017 wurde er mit der Tübinger Poetik-Dozentur an der Eberhard Karls Universität Tübingen geehrt.

Claudio Caiolo (*1966 in Sant’Agata di Militello, Sizilien) zog 1996 nach Stuttgart. Seit seines Besuchs der Theaterschule Avogaria in Venedig wirkte er an einer Vielzahl von Theaterstücken, Fernseh- und Kinoproduktionen mit. Das Kinoprojekt Birthday, das er mit Stefan Jäger konzipiert hatte, erhielt beim Film Festival „Max-Ophüls-Preis“ den Publikums- und Drehbuchpreis (2001).

                                                                                              Fabian Seelbach


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