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Annika Scheffel | Bevor alles verschwindet 

Suhrkamp Verlag GmbH 2013
411 Seiten
19,95 Euro

ISBN 978-3-518-42354-7

von Amandine Olbort | Download

„Ein Abschied, das war endlich so etwas wie ein Abschied, aber weinen kann sie immer noch nicht, dafür ist zu viel passiert. Ein Zuviel, das eigentlich alles ist und gegen das auch […] kein Hiersein hilft, kein Woanders und kein Garnicht.“ In Annika Scheffels zweitem Roman Bevor alles verschwindet geht es um ein unwiderrufliches Ende.

Der Leser begleitet die Figuren ein knappes halbes Jahr durch ihre Untergangsstimmung. Das Dorf der Protagonisten soll geflutet, ihre Heimat zerstört werden, und das für ein Erholungsgebiet mit Stausee. Doch die Bewohner wollen dies nicht akzeptieren, planen Protestaktionen und leisten bis zuletzt Widerstand.

Die Geschehnisse werden aus den unterschiedlichen Perspektiven der Dorfbewohner erzählt. Am lautesten protestieren die gerade volljährigen Salamander Zwillinge, Jula und Jules, ihre Mutter, die Bäckerin Eleni, Bürgermeister Martin Wacholder - Wacho genannt - sein 27-jähriger Sohn David, die Familie Schnee bestehend aus Mutter Clara, von Beruf Ärztin, Vater Robert, dem einzigen Schauspieler des Dorfes und ihrer kleinen Tochter Marie. Nicht zu vergessen: Der blaue Fuchs und Milo, Symbole für das Außerkraftsetzen von üblicher Zeit- und Raumvorstellung. Denn Milo ist kein Mensch aus Fleisch und Blut und stammt auch nicht aus dieser Welt: „Wo Milo herkommt, ist schwer zu sagen. Vielleicht aus einem Land, das bisher noch niemand entdeckt hat. Vielleicht ist Milo der erste Mensch, der dieses Land je verlassen hat.“ Auf die Frage, wer er eigentlich sei, zieht dieser „die Schultern hoch, seine Augen sind gelb, vielleicht ist es das Licht, vielleicht aber auch nicht. ‚Du bist noch mehr, du bist auch noch andere, das verstehe ich jetzt.‘ Milo leuchtet wie die Blätter am Baumstumpf. […] Milo verkörpert das Vermissen.“

Scheffels Roman ist zweifelsfrei in der Gegenwart angesiedelt, jedoch lässt sie realistisch Alltägliches mit dem imaginären Raum verschmelzen. Der Roman kann daher dem magischen Realismus zugeordnet werden.

Im Verlauf der beschriebenen Endzeitstimmung wird der Leser Teil unterschiedlicher Dramen, die immer von der Schwierigkeit des Loslassens, der unerledigten Vergangenheit und des Verdrängens handeln. Zum Beispiel, dass Wacho nach Jahren des Verlassen-worden-seins und des Nichts-von-einander-hören, noch immer davon überzeugt ist, dass Anna, die Mutter seines Sohnes, jeden Augenblick wieder zu ihnen zurückkehren wird. Wacho hält eisern an diesem Glauben fest, auch als er es eines Nachts nicht allein aus dem Fluss, der Traufe genannt wird, schafft und auf Elenis Hilfe verzichten will: „‘Dann lass mich‘, sagt Wacho. ‚Dann warte ich hier im Wasser, bis Anna kommt, ihr wird schon was einfallen.‘“ Ein weiteres Beispiel hierfür, ist der Umgang von Wacho mit seinem 27-jährigen Sohn, beispielsweise, dass Wacho David in seinem Zimmer einschließt, weil er es nicht ertragen würde, von diesem verlassen zu werden.

„‘Ich muss ins Tore‘, sagt David und versucht dabei möglichst ruhig zu wirken. Es gelingt ihm nicht, Wacho merkt ihm an, dass er Bescheid weiß, darüber, dass es mit Wacho durchgeht. Er lässt David nicht wieder aus dem Haus. […] Er hat David die Treppe hoch in sein Zimmer geschoben und die Tür von außen abgeschlossen, den Schlüssel bewahrt er seit Jahren unter seinem Bett bei den anderen Dingen auf, jetzt weiß er, warum. So kann er David in Sicherheit bringen, ihn vor dem Wissen schützen, das sie alle ängstlich macht, ihn für sich behalten und parat haben, für die Zeit, wenn Anna kommt.“

Die Dorfbewohner scheinen sich durch das sich langsam entziehende Selbstverständliche, wie der Natur oder der Landschaft, in eine Traumwelt zu phantasieren. Der von Marie erschaffene blaue Fuchs, der im Brunnen vor dem „Tore“, dem Wirtshaus des Dorfes, haust, kämpft an der Seite der Dorfbewohner und beißt einen Gelbhelm, so werden die Bauarbeiter bezeichnet, nach dem anderen. Er und auch Milo nehmen als eine Art Sehnsuchtswesen Gestalt an. Diese eingebauten fantastischen Elemente haben eine wichtige Funktion im Roman: Sie bilden in Verbindung mit der Darstellung von konkret realistischen Vorgängen den prekären Punkt und spannen ein sowohl beunruhigendes als auch vertrauenerweckendes Netz um den Ort. Scheffel konterkariert das Endzeitgefühl durch gegenläufige Momente: Das untergehende Dorf bildet eine eigene Welt, abgeschirmt von der Außenwelt und auch von der nächstgrößeren Stadt. Motive der Reinheit, einer von Geschichte unberührten Märchenwelt, in der Jula Salamander als Schneewittchen bezeichnet wird, verweisen auf dieses Gegenläufigkeitsprinzip. Vielleicht ist es aber auch so, dass Märchen gerade dann beginnen, wenn es keinen Ausweg mehr gibt.

„Jula kurbelt das Fenster herunter, ihre Haare flattern im kalten Wind: Sie erinnert sich, irgendwie erinnert sie sich an alles, als wäre sie dabei gewesen die ganze Zeit und nicht im entscheidenden Augenblick verschwunden. Leben bewahrt sich in Erinnerungen, und mancher Moment wird erst dort Wirklichkeit, wo niemand mehr ihn klar sieht. Das ist gut. Das ist alles.“

Annika Scheffels Roman fordert hohe Vorstellungskraft und stellt eine Art Erlösungsmärchen dar: Erst müssen die Dämonen der Vergangenheit ausgetrieben werden, bevor ein neues Leben beginnen kann.

 

Die Autorin wurde 1983 in Hannover geboren, schreibt neben Prosa auch Drehbücher und erzielte mit ihrem Debütroman Ben, der 2010 von Kookbooks publiziert wurde, erste Erfolge.

 

(Amandine Olbort)


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