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Amos Oz | Judas 

Roman, 336 Seiten
Suhrkamp 2015
22,95 €
ISBN: 978-3-518-42479-7

von Anna-Lena Panter | Download

„Dies ist die Geschichte der Wintertage Ende des Jahres 1959, Anfang 1960. In dieser Geschichte gibt es Irrtum und Lust, es gibt enttäuschte Liebe, und es gibt so etwas wie die Frage nach Religiosität, die hier unbeantwortet bleibt.“

Mit diesen Sätzen beginnt Amos Oz seinen neuen Roman Judas. Zugleich wird dem Leser klar, dass es sich hierbei nicht um eine einfach gestrickte Geschichte handeln kann: Thematisch bewegt sich der Roman zwischen Religion, Politik und Liebe und erzählt die Geschichte von drei Menschen, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten und die doch mehr verbindet, als man anfangs glauben mag.

Der Protagonist Schmuel Asch ist ein Student Mitte Zwanzig, der gerade sein Studium aufgrund der schwierigen finanziellen Lage seiner Eltern aufgeben musste, zeitgleich an seiner Forschungsarbeit gescheitert ist und zudem noch von seiner Freundin verlassen wurde. Um erst mal über den Winter zu kommen, bewirbt er sich auf eine Stelle zur Betreuung eines alten Mannes. So zieht Schmuel Asch an den Stadtrand von Jerusalem und leistet dem alten und körperlich behinderten Gerschom Wald Gesellschaft. Seine Arbeit besteht vorwiegend in allabendlichen Diskussionsrunden und Streitgesprächen mit einem kultivierten und gebildeten Gesprächspartner. Das letzte Glied der Dreierkonstellation ist die Hausherrin und Witwe des verstorbenen Sohnes von Gerschom Wald: Atalja Abrabanel. Die geheimnisvolle und distanzierte Frau übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf den zwanzig Jahre jüngeren Schmuel aus: Eine zum Scheitern verurteilte Liebesgeschichte beginnt.
Neben den drei Hauptfiguren des Romans begegnen dem Leser noch zwei weitere, jedoch bereits verstorbene Personen: Micha Wald und Scheatiel Abrabanel. Ersterer ist der Sohn Gerschom Walds, der im ersten arabisch-israelischen Krieg einem brutalen Verbrechen zum Opfer fiel. Scheatiel Abrabanel, Vater von Atalja, war einer der wenigen Verfechter einer Zwei-Staaten-Lösung für Juden und Palästinenser und damit Gegner von Israels Gründungsvater Ben Gurion. Durch diesen Zusammenhang wird schnell die politische Dimension der im Roman geschilderten Familiengeschichte deutlich: Politik passiert nicht mehr draußen vor der Tür, sondern wirkt sich direkt sowohl auf Gerschom Walds als auch auf Ataljas Schicksal aus. Die Legitimation des Judenstaates ist ein oft diskutiertes Thema unter den Protagonisten, ebenso wie das kriegerische Vorgehen Israels gegenüber den Palästinensern. Die grundlegende Frage ist: Wie können Juden und Palästinenser gemeinsam und in Frieden leben? Entscheidend ist, dass diese Frage längst nicht mehr auf rein politischer Ebene diskutiert werden kann; unterschiedliche Wertvorstellungen und verhärtete Traditionen verkomplizieren den Diskurs, Kultur und Religion stehen sich gegenüber.
Ataljas Vater starb, nachdem er sich von der Politik zurückgezogen hatte, einsam und geächtet in seinem Haus. Von seinen früheren Parteigenossen wird er als Verräter bezeichnet. Wie bereits der Titel verspricht, zieht sich das Thema Verrat als roter Faden durch den Roman. Die Geschichte um Judas, den Jünger Jesu, der seinen Herrn verraten haben soll, wird dabei im Rahmen von Schmuels unbeendeter Forschungsarbeit „Jesus in der Perspektive der Juden“ verarbeitet. Warum gilt Judas im gesamten Christentum als der ewige Verräter? Hat er Jesus wirklich verraten? Amos Oz lässt seinen Protagonisten eine neue Lesart der Geschichte Jesus erarbeiten: Für Schmuel ist Judas nicht der Verräter – im Gegenteil: Judas Ischariot ist der Gründer der christlichen Religion, der erste wahre Christ. Judas hat Jesus nicht verraten, er hat ihn nur verkannt; er hat daran geglaubt, dass Jesus den Tod besiegen kann.

Amos Oz vereint in Judas verschiedene Themen, die von höchster Aktualität sind. Außerdem bietet er eine neue Perspektive auf den Jahrhunderte alten Mythos um die Passionsgeschichte. Dabei gelingt ihm auf beachtliche Weise die Gratwanderung zwischen neutraler Geschichtsdarstellung und meinungsstarken Charakteren. Im Druckfrisch-Gespräch mit Denis Scheck betont Oz, dass es ihm in seinem Buch nicht um eine ‚richtige‘ Darstellung des Nahost-Konflikts gehe, er wolle lediglich verschiedene Argumentationslinien literarisch verarbeiten, um „poetische Gerechtigkeit“ walten zu lassen. Die religionsgeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Verrat an Jesus ist dabei so aufbereitet, dass vor allem religionskritische Leser auf ihre Kosten kommen: Letztlich handelt es sich bei der Bibel um Geschichten, die so oder anders gelesen werden können. Auch wenn meist leider eine Lesart dominiert, besteht immer die Möglichkeit einer Alternative. Judas wirft in diesem Sinne vor allem Fragen auf: Fragen an die Religion, an die Politik und an die eigenen Auffassungen dazu.

Neben diesen Grundpfeilern nimmt die Liebesgeschichte zwischen Schmuel und Atalja einen beträchtlichen Teil der Handlung ein. Zu oft wird die schöne, kühle, distanzierte Atalja detailliert beschrieben, während Schmuel, der Asthmatiker und gescheiterte Student in der Selbstfindungsphase, wie ein kleiner, tölpelhafter Junge neben ihr wirkt. Schmuel scheint Atalja in allen Belangen unterlegen, sie wiederum nimmt sich seiner an und lässt ihn, zumindest für einen kurzweiligen Moment, an ihrem Leben teilhaben. Oz schafft es zwar, die anderen Erzählstränge ihren komplexen Sachverhalten entsprechend und auf höchst spannende Weise darzustellen. Doch die Geschichte von Atalja und Schmuel verfällt an einigen Stellen in kitschige Beschreibungen. Zudem weiß der Leser bereits mit der ersten Begegnung der beiden, wie es um den Ausgang der Geschichte bestellt ist. Die Handlung des Romans ist auch ohne diese unglückliche Liebesgeschichte bereits nahezu überladen. Bemerkenswert ist, wie dieser Teil der Erzählung in den Feuilletons diskutiert wird: kaum. Zwar nimmt die Liebesgeschichte eine zentrale Stellung im Roman ein, sie wird jedoch weder besonders kritisch betrachtet noch außerordentlich gelobt. Das erweckt den Anschein, als ließen die Kritiker diesen Aspekt in ihrer sehr positiv ausfallenden Bewertung des Romans außen vor.

Auch andere Stellen des Romans bieten dem Leser die Grundlage für kritische Äußerungen, obgleich diese in Bezug auf die Gesamtwirkung des Buches in den Hintergrund rücken. So taucht beispielsweise eine Beschreibung des Protagonisten durch seine Ex-Freundin erstaunlich häufig auf: „Du bist entweder ein begeisterter kleiner Hund, der kratzt und tobt, und sogar wenn du auf dem Stuhl sitzt, drehst du dich die ganze Zeit um deinen eigenen Schwanz, oder du bist das Gegenteil – liegst ganze Tage lang auf dem Bett wie eine ungelüftete Wolldecke.“ Wiederholungen spielen in diesem Roman eine wichtige und auch nicht zu unterschätzende Rolle; sie ermöglichen intertextuelle Beziehungen, referieren auf Vergangenes und den Verlauf der Geschichte – jedoch verliert die Wiederholung ihre Wirkung, wenn sie bis ins letzte, womöglich auch unwichtige Detail, praktiziert wird.

Die Stärke von Amos Oz‘ Roman Judas besteht vor allem in der spannenden und komplexen Verwebung verschiedener Thematiken: Einerseits das Aufgreifen der aktuellen Geschehnisse des Nahost-Konflikts, andererseits die mystische Frage nach dem Verrat an Jesus – eine Frage, auf deren Beantwortung der Konflikt zwischen zwei Weltreligionen beruht. Amos Oz bietet dem Leser eine völlig neue Perspektive auf eine Geschichte, die zumindest im Christentum seit jeher als wahr gilt. Von der abstrakt geschichtlichen Ebene schlägt er mit Hilfe der drei Hauptfiguren die Verbindung zum individuellen politischen Denken und Handeln. Für jeden, der sich für die aktuelle Situation Israels sowie dessen Gründungsgeschichte interessiert, sollte dieses Buch Pflichtlektüre sein. Zudem hat Amos Oz mit Judas ein weiteres, einschlägiges Werk innerhalb der Literatur über jüdische Geistes- und Kulturgeschichte geschaffen.

Über den Autor
Amos Oz, geboren 1939 in Jerusalem, ist einer der bekanntesten israelischen Schriftsteller. Er studierte Literatur und Philosophie an der Hebräischen Universität in Jerusalem und lebte lange Zeit im Kibbuz Chulda. Seit dem 6-Tage-Krieg ist er ein aktiver Verfechter der Zwei-Staaten-Lösung im israelisch-palästinensischen Konflikt.
Mirjam Pressler erhielt für die deutsche Übersetzung des Buches den Preis der Leipziger Buchmesse 2015.

Anna-Lena Panter


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