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Henriette Fürth | Streifzüge durch das Land eines Lebens 

Autobiographie einer deutsch-jüdischen Soziologin, Sozialpolitikerin und Frauenrechtlerin (1861-1938).

Mit einem Vorw. von Helga Krohn. Hrsg. von Monika Graulich, Claudius Härpfer und Gerhard Wagner
Kommission für die Geschichte der Juden in Hessen, 2010
352 Seiten
39.00 Euro
ISBN 978-3921434307

von Nassrin Sadeghi | Download

Mit den Erinnerungen von Henriette Fürth (1861-1938) wird ein Zeitzeugnis einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich, das sowohl Einblick in das Leben einer beeindruckenden Persönlichkeit gibt, als auch in das Leben einer deutsch-jüdischen Mittelstandsfamilie. Verfasst hat Fürth ihre Aufzeichnungen retrospektiv im Alter von etwa 70 Jahren. Dabei betont sie, dass „diese Blätter keine chronologische Darstellung meines Lebenslaufes werden sollen, sondern bunte Bilder aus dem Schatz einer reichen Erinnerung“ (S.54). Demgemäß beschreibt sie Episoden, die sie mit familiären Anekdoten, Gedichten und Auszügen aus Briefen angereichert.

Grob lässt sich die Autobiographie in zwei Teile gliedern: Im ersten Drittel gibt Fürth Auskunft über ihre Kindheit und Jugend, ihre Eltern sowie die eigenen Kinder. Dabei werden Schicksale von Familienangehörigen ebenso angesprochen, wie Vorstellungen von Erziehung und Lebensentwürfen thematisiert. Die anderen zwei Drittel ihres Buches lassen sich eher als Memoiren verstehen, in denen Fürth ihr soziales und gesellschaftliches Engagement skizziert; dazu gehören ihre zahlreichen Vorträge und Publikationen, deren Entstehungshintergründe sowie die Menschen, die sie getroffen und mit denen sie gearbeitet hat. Sie sieht jedoch davon ab zu beschreiben, wie sich ihre Persönlichkeit entwickelt hat oder wie sich ihre intellektuelle Entwicklung gestaltet.

Beeindruckend an der Person Fürth sind dabei sowohl die Vielseitigkeit ihrer Arbeitsthemen, als auch die Unnachgiebigkeit, wenn es darum geht, ihren eigenen Weg zu gehen. So referiert oder publiziert sie beispielsweise zu den Themen Mutterschutz, Ziehkindwesen, Arbeiterinnen, Versicherung der Kriegsteilnehmer, Kriegsküche, Arbeit der Kriegsehefrauen, Prostitution, Geschlechtskrankheiten, Aufklärung, Berufstätigkeit von Frauen und die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Seit 1901/1902 ist sie Mitglied der SPD – als diese offiziell eigentlich noch keine Frauen aufnahm –, wird 1919 Stadtverordnete in Frankfurt und ist einzige Frau im Haupt- und Finanzausschuss, um nur einige Beispiele ihres sozialpolitischen Engagements zu nennen. Dabei lässt sie sich nicht von innerparteilichen Richtlinien von ihrer eigenen Meinung abbringen. „Ich war ein viel zu sachlicher und selbständig denkender Mensch, als dass ich mich ohne Weiteres der Parteischablone hätte fügen können“ (199).

Nicht weniger beeindruckend ist die Kraft und Ausdauer mit der sie ihre Familie und beruflichen Interessen verbindet – teilweise bis an den Rand der Erschöpfung – denn neben den Einnahmen aus Vorträgen und Publikationen geht sie aus finanziellen Nöten einer Erwerbsarbeit nach. „Ich war nicht nur Mutter. Ich war ein Eigener. Ein geistiger Mensch wollte ans Licht. Eine Persönlichkeit. – Und wenn ich’s recht überlege, konnte ich als ein solcher Eigener, […] meinen Kindern mehr sein als viele andere Frauen, die nichts anderes waren und sein wollten als Mütter.“ (S.35).

Allerdings erhält der Leser/die Leserin keine Antwort auf die sich aufdrängende Frage, was genau Fürth bei ihren vielseitigen Aktivitäten und der starken Belastung antreibt und wie sich die Entwicklung ihrer Persönlichkeit vollzieht. Die Erinnerungen verfasst sie aus der Perspektive eines Menschen, der „stark und fest in [sich] selbst“ ruht (S.53).

In der vorgelegten Erstausgabe werden Fürths Aufzeichnungen ergänzt durch anschauliches Bildmaterial, einen knappen Fußnotenapparat sowie ein Namensregister. Besonders hervorzuheben ist zudem die umfangreiche Bibliographie von Henriette Fürths Publikationen. Die Herausgeber betonen, dass es nicht ihr Anspruch ist, eine historisch-kritische Ausgabe zu erstellen, jedoch durchaus einen „zuverlässigen Textkorpus“ zur Verfügung zu stellen. So werden die erwähnten Texte von Fürth ebenso nachgewiesen wie Zitate oder historische Ereignisse. Die Lesbarkeit des Textes hat dabei Vorrang vor der „größtmöglichen textuellen Authentizität“. An einigen Stellen hätte der Fußnotenapparat jedoch durchaus etwas detaillierter sein dürfen, auch wenn aus Sorge, diesen „nicht zu überfrachten“, darauf verzichtet wurde.

Fürths Erinnerungen sind in jedem Fall auch heute noch ein lesenwertes Zeitzeugnis, das Einblick in das Leben einer deutsch-jüdischen Sozialdemokratin und Frauenrechtlerin gibt.

(von Nassrin Sadeghi)


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