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Jan Wagner | Australien 

Gedichte
Berlin Verlag 2010
102 Seiten
18.00 Euro
ISBN 978-3827009517

von Daniel Randau | Download

Wenn einer eine Reise tut, behauptete Claudius, kann er nachher was verzählen. Nach einer Weltreise ist der Verzähldrang wohl besonders groß, die gesammelten Bilder besonders zahlreich und heterogen – wo fängt man an, worauf will man hinaus? Der vierte Lyrikband des gebürtigen Hamburgers Wagner nimmt sich wie der Versuch aus, die Impressionen einer Weltreise in möglichst verdichteter Form zu Papier zu bringen und dabei impressionistische Details einzufangen, die sich durch eingehende Betrachtung zu eindrucksvollen Totalen ausweiten lassen.

Der Band präsentiert sich in fünf nahezu gleich große Kapitel aufgeteilt, von denen die ersten vier nach den Himmelsrichtungen benannt sind: In der Reihenfolge Süden – Westen – Osten – Norden wird der Erdball durchmessen. Diese Richtungsänderungen zeichnen den geschlossenen Umriß einer eckigen Lemniskate auf die Kompassrosette, ein treffendes Symbol für die stringente Konstanz von Stil und Register der Texte, wie auch für ihre charakteristische Eigenschaft, komplexe Geschichten in verblüffender Einfachheit und Kürze weniger zu vermitteln als anzudeuten. Das letzte Kapitel, titelgebend Australien genannt, bleibt wie die ehemalige terra incognita in diesem geschlossenen System außen vor; die darin präsentierten Texte sind allerdings stilistisch oder in ihrer Funktionsweise nicht nennenswert von den übrigen zu unterscheiden und deshalb für den Leser glücklicherweise auch nicht schwerer zugänglich als der Rest des Werkes. Liebhaber konventioneller Lyrik aus vergangenen Jahrhunderten werden in diesem Band ebenso fündig wie Freunde moderner Ausdrucksformen.

Die Gedichte bilden eine merkliche Einheit, ohne monoton zu werden: Überwiegend Pentameter, die bei häufiger Unregelmäßigkeit der Füllungen immer wieder in alternierende Verläufe einrasten und eine Vielzahl von Assoziationen von Brentano bis Rilke aktivieren, die der Vielschichtigkeit der kurzen Gedichte sehr zugute kommt. Darüber hinaus erklingen zahlreiche Endreime oder nur Assonanzen, die wohldosiert genug Verwendung finden, weder als pflichtgetreue Vollendung einer Formvorlage mißverstanden, noch mit Klopstock als peinliches „Wortgepolter“ bekrittelt werden zu können. Diese Reime sind, was im Deutschen selten geworden, weder zwanghaft noch peinlich und belohnen auch das laute Wiederlesen der kurzen Gedichte, indem sie neue Rhythmen aufzeigen und ermöglichen, bei denen Beschleunigung oder abruptes Verharren einer Dynamik entspringen, die sich den Kadenzen oder strophischen Strukturen entgegenstemmt.

Die Texte aus dem „Süden“ operieren häufig mit „Wallungswert“ vielvokaliger Wörter, die durch den Verlauf der kurzen Strophen wohltuend exponiert werden. Benn, der Entdecker des Potentials durch phonetische Erlebnisse ausgelöster reger Assoziationstätigkeit, verband diesen „Wallungswert“ vornehmlich mit der Darstellung südlicher Gefilde. Trefflichen Beweis für die Ergiebigkeit der Benn’schen Theorie bilden etwa Wagners „ölbäume“, denen sich „der gesang einer husqvarna“ zugesellt. Wer jetzt auf Anhieb weiß, daß „Husqvarna“ nicht nur der Name des neuen „Gardena“-Eigentümers (wiederum ein Name, dessen „Wallungswert“ lyrisches Potential hätte), sondern auch die marktführende Marke bei Kettensägen ist, verfügt vermutlich über ein breit genug aufgestelltes Allgemeinwissen, um Wagners Texte ohne Zuhilfenahme einschlägiger Quellen genießen zu können. Weniger versierte Leser werden zuweilen das Bedürfnis verspüren, ein Konversationslexikon griffbereit zu halten oder sich wünschen, der den Gedichten nachgestellte Anmerkungsteil wäre deutlich umfangreicher als zwei Seiten ausgefallen. Die Auslotung kleinster semantischer Details ist allerdings nicht zwingend notwendig, um ein zufriedenstellendes Verständnis der Texte zu erreichen.

Leitmotivisch durchzieht den „Westen“ die subtile Darstellung des altbekannten Topos von Mensch gegen Natur, wobei die drohende Niederlage des Menschen im „Osten“ dahingehend relativiert wird, daß die Texte dieses Kapitels eine Symbiose der scheinbaren Gegner plausibel machen; die Verwendung des Motivs von Gerhardt, „Der Mann wird einem Baume gleich“, kann hier durchaus programmatische Wirkung entfalten.

Das exponierte letzte Kapitel schließlich mag als Beispiel für das schwer zu fassende Phänomen des Xenismus gelten, die Evokation exotischer Fremdheit ohne den Umweg über konzeptuelle Inhalte. Man nehme etwa die „tätowierungen“ eines unbekannten Matrosen, aus denen sich die gefahrvolle Lebensgeschichte eines Soldaten und Freibeuters nicht mehr ablesen läßt, obwohl die Zeichen auf seiner Haut die Stationen seines Lebens markieren. Dem Betrachter und Leser bleibt nur die grauenhafte Gestalt des unkenntlich gemachten Menschen, lautlich markiert durch unbekannte Orts- und Berufsbezeichnungen, ein Antipode zum bekannten Koordinatensystem.

Solche Aufschlüsselungen semantischer Details, durch zusätzliches Quellenmaterial gestützt, wird zweifellos eine fruchtbringende Lektüre der Gedichte in Australien sein. Reizvoller als die prismatische Aufbrechung der Vignetten erscheint allerdings ihr lautliches Erleben und die damit angetretene assoziative Reise der Ideen in das eigene Fernweh.

(von Daniel Randau)


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