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Anna Tüne | Von der Wiederherstellung des Glücks 

Roman
Galiani Berlin 2010
226 Seiten
16.95 Euro
ISBN 978-3-86971-013-6

von Bastian Appel | Download

„Wer keinen Hof und keinen Fußbreit eigenen Boden besitzt, kann doch eine Heimat haben; aber wem die Mitbürger ein Plätzchen idealen Baugrundes in ihrem Herzen verweigern, der ist heimatlos.“ Paul Keller, (1873 - 1932)

In Anna Tünes Roman Von der Wiederherstellung des Glücks sucht ein kleines Mädchen ihren Platz in einem fremden Land zwischen den vielen Menschen, die sie ablehnen und den wenigen, die sie in ihr Herz lassen. Dabei werfen die dunklen Stunden der Vergangenheit immer wieder ihre schwarzen Schatten über das kleine Mädchen und seine Familie.

Der Krieg ist vorbei und „die Kleine“ verlässt mit ihrer Familie das zerstörte Deutschland, um ein neues Leben zu beginnen. Ein dubioses Aussiedlungsprogramm vermittelt ihnen einen Hof in der französischen Provinz, die noch vor wenigen Jahren von den deutschen Soldaten in Angst und Schrecken versetzt wurde. Der anfängliche Enthusiasmus der Familie verfliegt schnell, als klar wird, dass der Hof keineswegs hält, was versprochen worden war. Neben den Problemen auf dem Hof sehen sich die Eltern, und besonders die Kinder, mit der ablehnenden Haltung der einheimischen Dorfbewohner konfrontiert. Gleich zu Beginn des Romans macht das Mädchen die unangenehme Bekanntschaft mit Matté, dem jovialen, lauten und alkoholabhängigen Dorfnarr, der ihr mit seinem „Boche!!!“ – „deutsches Schwein“ fluchend seinen ganzen Hass entgegen schleudert.

Doch bevor die Familie an den schlechten Bedingungen des Hofs und der allgemeinen Ablehnung der dörflichen Gemeinschaft verzweifelt, tritt Sully in ihr Leben. Der naturverbundene „alte“ Sully wird in der ganzen Region sehr geschätzt und von der Kleinen für seine scheinbaren Heil- und magischen Kräfte geradezu vergöttert. Durch sein Wirken beginnen die Einheimischen ihren Argwohn gegen die deutsche Familie schrittweise abzulegen.

Auf poetische Art und Weise zeichnet Anna Tüne das Bild eines vom Krieg emotional tief verwundeten Frankreichs, das nur schwer vergessen kann. Die bildreiche Sprache setzt die Natur und die Landschaft in Szene und vermittelt durch die naiv-kindliche Sichtweise der Kleinen durchaus ein Gefühl von Sorglosigkeit. So spielt das Mädchen wie jedes andere Kind mit ihren Schwestern im Garten oder fängt Heuschrecken in Schraubgläsern.

Spielt der Roman zwar mit seiner Haupthandlung im Nachkriegsfrankreich, erfährt der Leser durch verschiedene auktorial erzählte Kapitel weitere Details über die Hintergründe der Familie. Durch Beschreibung der Einzelschicksale von Mutter Else und Vater Alfred, ihrer Kindheit, ihrem Leben nach dem Ersten und während des Zweiten Weltkrieges, werden die Konturen der Charaktere schärfer gezeichnet.

Tüne fängt dabei die Stimmung in Deutschland ein; die Skepsis gegenüber den Nazis, die wachsende Angst nach der Machtergreifung und die persönlichen Erlebnisse während des Krieges. Der zivile Widerstand spielt dabei eine große Rolle, besonders das kleine französische Örtchen Dieulefit, das sich durch einen besonders intelligenten und erfolgreichen Widerstand auszeichnet. Die Haupthandlung in Frankreich verläuft weitestgehend chronologisch, wird aber durch die rückblickenden Kapitel immer wieder unterbrochen und lässt dadurch den Krieg stets präsent erscheinen. Dabei stehen die blutigen Beschreibungen und Schrecken der Kriegshandlungen der idyllischen Beschreibung der französischen Landschaft und dem friedlichen Leben der Kleinen direkt gegenüber, ein Kontrast, der den Gemütszustand der Eltern deutlich spiegelt.

Die Suche der jungen Protagonistin nach Zugehörigkeit und ihre schrittweise Integration bilden den Rahmen für die Geschichte einer Familie, deren Erlebnisse während des Krieges, die Verarbeitung dieser Ereignisse und die Frage nach Tätern und Opfern. In ihrer neuen Heimat kämpft die Familie mit ihren eigenen Erinnerungen an den Krieg und mit Themen wie Schuld und Verantwortung gegenüber den Einheimischen, aber auch mit sich selbst. Wie ein Mosaik aus Erinnerung, Scham, Vergebung, Akzeptanz und Freundschaft setzt sich dabei das komplexe Bild mehrerer Generationen unterschiedlicher Nationen zusammen, die versuchen, den Krieg hinter sich zu lassen und nach vorne zu schauen. Der Leser hat das Gefühl, über die Schulter der Kleinen zu schauen, während sie versucht, die Erzählungen der Eltern und Bekannten einzuordnen und eine normale Kindheit in einem aufgewühlten Frankreich zu verbringen.

Anna Tüne gelingt es in ihrem Roman, den sie selbst als „hypothetische Autobiografie“ bezeichnet, durch poetische Sprache und schonungslose Ehrlichkeit die Verarbeitung von Kriegsgeschehnissen vor bisher unbekannter Kulisse in ein neues Licht zu rücken. Diese außergewöhnliche Lebenssituation bietet eine neue Sichtweise auf die Jahre nach dem Krieg und zeichnet spannungsvoll das Verhältnis zwischen den einst so verfeindeten Nachbarländern.

Zur Autorin:
Anna Tüne, Jahrgang 1950, hat Landschaftsplanung, Philosophie und Romanistik studiert. Sie arbeitet seit 25 Jahren als freiberufliche Kulturmanagerin und Projektentwicklerin. Momentan entwickelt sie mit französischen Partnern das Gedenkprojekt »Dieulefit – Citoyenneté «. Anna Tüne ist Vorsitzende des Vereins Courage gegen Fremdenhass e.V.


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