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Jörg Harlan Rohleder | Lokalhelden 

Roman
Piper 2010
285 Seiten
16.95 Euro
ISBN 978-3492053846

von Lars Meuser | Download

Straight outta Echterdingen

Die Causa Heimat hält in den letzten Jahren verstärkt Einzug in die deutschsprachige Literatur. So beleuchtet Stephan Thome die Beziehungs- und Karriereprobleme der Generation Golf Plus im mittelhessischen Outback (Grenzgang, 2009) und Andreas Maier klärt zwischen 1969 und Jetzt vermittels einer Ortsumgehung das Verhältnis zu seinem verstorbenen Onkel J. (Das Zimmer, 2010). Und während in Stuttgart zwischen Gummiknüppeln und Geißler ein historischer Bahnhof vor der Abrissbirne und so ein Stückchen heimatlicher Idylle bewahrt werden soll, tritt Jörg Harlan Rohleder mit seinen Lokalhelden auf den Plan. Selbst in der Stuttgarter Peripherie groß geworden, nimmt der 34jährige Musikjournalist den Leser in bester popliterarischer Manier mit auf eine Reise in die Mittneunziger zum Ich-Erzähler Schmall und seiner Clique.

Der („fabelhafter Lügner, Anstifter, Mitläufer“) kehrt gerade von einem achtwöchigen Auslandsaufenthalt in England zurück, den er sich nach dem Abi gegönnt hat. Zurück in seinem Zimmer erinnert er sich an einschneidende Erlebnisse aus den vergangenen vier, fünf Jahren seines Lebens. Nun ja, zumindest an jene, die nicht in irgendeinem Filmriss verloren gegangen sind.

Schmall, Brownsen, Enni und noch einige andere wachsen in Echterdingen auf, im Bewusstsein, dass man bis nach Stuttgart Downtown nicht mal eine halbe Stunde mit der Straßenbahn bräuchte, so man denn hinkommen wollte. In den idyllischen Fildern aber hat man das Jackie’s, das Zeus, den Skatepark, das Jugendhaus, die Aral-Tanke und das Totenwegle, allerorten tobt also das Leben. Man versucht sich mittels Skater-Magazinen, Thrasher-Pullis, pumpenden Elektro-Beats, anglisierten Spitznamen und dem spokesman of a generation Kurt Cobain permanent rückzuversichern, dass einem die westliche Medien- und Konsumwelt prinzipiell immer offen steht. Auch muss man sich in Echterdingen nicht damit auseinandersetzen, dass andernorts möglicherweise just in diesem Moment hunderttausende Menschen einem Genozid zum Opfer fallen. Und wenn schon: Das Schlimmste, das einem hier widerfahren kann, ist, dass sich der Nirvana-Frontmann in selbiges befördert, getreu dem Motto „Let freedom ring with a shotgun blast!“

Und so bleiben diese Mittelstandskids allesamt irgendwie in der Provinz der Stuttgarter Fildern zwischen Nollie Kickflips und 360 Shove-Its hängen, erweist sich die Gewissheit schwäbischer Urbanität schnell als ebenso heimelig wie trügerisch. Und wenn es dann doch mal einer wagt auszubrechen, respektive nicht zum Abi zugelassen zu werden, und eine Lehre als Koch anfängt, dann ist man sich in der Clique gleich sicher: „Der hat sich ja voll verändert“. Das will man hier nun wirklich nicht haben. Zum Ernstsein hat man auch noch später im Leben Zeit, dann nämlich, wenn man einer von den Zombies (=Erwachsenen) aus so called Schwabylon geworden ist. Gerüchten zufolge bekommt man dann auch einen gewissen Sinn für wirklich lustige Wortspielereien. Für das Hier und Jetzt aber gilt obligatorisch: Alles über 25 ist scheiße, wenn es nicht Profi-Skater ist oder für Nachschub an der Theke sorgt.

Überhaupt erscheint all das, was in diesem Roman an Ernsthaftigkeit eingestreut wird, immer als etwas out of time. Geradezu deplatziert wirkt es, wenn plötzlich zwei Jungs aus dem erweiterten Bekannten- und Freundeskreis wegen Drogendelikten im mittelkleinen Stil in den Jugendvollzug müssen, oder wenn der passionierte Golffahrer und Schellenlogistiker Schädler vom Teilzeit- zum Vollzeit-Junkie aufsteigt und schließlich gänzlich ins Nirwana übergeht. Über solche Passagen erzählt der Ich-Erzähler denn auch schnell hinweg, ohne sich zum nochmaligen Umsehen zwingen zu müssen. Für Ablenkung sorgt Schmall dann durch das Erzählen über einen weiteren geschichtsträchtigen Suff oder auch über das erste Mal.

Serviert wird Lokalhelden in Form vieler kurzer Episoden die in ihrer Exzessivität selbst Layne Staley (r.i.p.) oder Peter Steele (r.i.p.) um den Verstand bringen würden. Immerzu hagelt es Eiswürfel, damit der Jacky-Cola auch gut läuft. Und in den Nebelschwaden der obligatorischen Tüte kann man sich prima vor dem dorf-, ‘tschuldigung, vorstadtbekannten Schläger verstecken. Doch wehe, man hat das Gras vergessen! Da kann man den Rave aber auch gleich sein lassen. Und am Ende jeder Tour steht die Erkenntnis, dass Sahnepatronen gar nicht mal so schlecht sind, wenn man eben mal in anderen Sphären schweben will – Trip sponsored by Mama, wenn man so will.

Garniert wird das Ganze mit Markennamen en masse und für den musikaffinen Leser wird ein dichtes Netz aus Liedtiteln und –texten der Mittneunziger gewoben, selbst die Fantas und die Massiven Töne geben sich ein Stelldichein. Sprachlich orientiert sich Rohleder eng am MTV-Jargon der Neunziger. Alles schon mal dagewesen, werden die Nörgler jetzt rufen. Ja genau, aber das ist gewiss kein Grund dafür, mit Lokalhelden allzu hart ins Gericht zu gehen. Völlig klar, das hier will nichts Neues und schon gar keine Hochliteratur sein, das muss es aber auch nicht, das können andere gewiss auch ganz gut. Die Stärke von Rohleders Erstlingswerk liegt darin, dass er seine Erzählung selbst zu keinem Zeitpunkt allzu ernst zu nehmen scheint. Dadurch gerät der Erzählduktus stets erstaunlich leichtfüßig und kurzweilig im besten Sinne des Wortes. Auch bedienen die geschilderten Episoden überwiegend das Zwerchfell und meiden die Tränendrüse. Um warum sollte man bei Popliteratur auf ausgefeilte Figuren pochen? Um zu unterhalten, dürfen’s auch gerne mal ein paar ganz platte Typen sein.

Und genau deswegen – und nicht trotzdem – ist Rohleder mit Lokalhelden ein von der Kritik zu Recht gütlich beachtetes Kleinod deutscher Popliteratur im Jahre 12 nach Stuckrad-Barre gelungen.

(von Lars Meuser)

Zum Autor
Jörg Harlan Rohleder, Jahrgang 1976, lebt in Berlin und arbeitet als Chefredakteur für den Musikexpress. Zuvor hat er Politikwissenschaften und Zeitgeschichte in Tübingen und London studiert und für MTV, Vanity Fair und Focus gearbeitet. Mit Lokalhelden hat er bei Piper jetzt sein literarisches Debüt vorgelegt.


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