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Andreas Maier | Das Zimmer 

Roman
Suhrkamp 2010
203 Seiten
17.90 Euro
ISBN 978-3518421741

von Lars Meuser | Download

Martyrium im Darkroom

„Verdammt noch mal, mach nicht formale Spiele, sondern finde eine Sprache für Dein Ich. Gib ein Zeugnis ab, gib ein Zeugnis von Dir und Deinem Leben ab.“ Das hat Andreas Maier aus seiner Lektüre Arnold Stadlers für sich mitgenommen. Eine Selbstbeschreibung dieser Art provoziert freilich die Frage danach, wie viel von sich, von seinem eigenen Leben der gebürtige Bad Nauheimer „mit Migrationshintergrund“ – er lebt ja mittlerweile in Frankfurt – in seine Romane mit einfließen lässt. Ob nun im alkoholgeschwängerten Geschwätz einiger Florstädter beim Wetterauer Regionalfeiertag (Wäldchestag, 2000), in Sachsenhausener Apfelweinkneipen mit anschließenden Anti-Castor-Demos im Wendland (Kirillow, 2005) oder auch in ätzenden Charakterstudien über biologisch-dynamische Teilzeitdominas aus dem Bioladen (Sanssouci, 2009): Überall drängt es den Leser zu fragen, ob da Autor und Erzähler nicht zumindest ein Stück weit gleichzusetzen seien.

Ein wenig Aufschluss darüber geben Maiers Kolumnen, die dieser seit fünf Jahren für die Literaturzeitschrift VOLLTEXT verfasst und die nun zu Beginn des Jahres unter dem Titel „Onkel J. Heimatkunde“ erschienen sind. Viele Themen und Motive, ja sogar einige Passagen aus diesen Kolumnen haben denn auch Eingang gefunden in Maiers just erschienen Roman Das Zimmer.

Der Plot von Das Zimmer geriert sich auf den ersten Blick eher unspektakulär: Ein dem Autor zum Verwechseln ähnlicher Ich-Erzähler – nennen wir ihn der Einfachheit halber Andreas Maier – erinnert sich im Zimmer seines verstorbenen Onkel J., einer Art frühem Darkroom, an selbigen. Die Erinnerung an Onkel J. erscheint diffus, das Verhältnis zerrüttet. Noch fragt man sich, warum man diesen Onkel kennenlernen soll, wo doch nichts Liebenswertes an ihm zu sein scheint. Der Erzähler aber will „versuchen, alles wieder an seinen Platz zu räumen mit [s]einen eigenen Worten“ und beginnt einen Tag im Leben J.‘s zu imaginieren. Dem soll so ein gerechtes Andenken zuteil und posthum ein Denkmal gesetzt werden, damit er nicht mehr nur als Zangengeburt und klaffende Wunde der Familie in Erinnerung sein möge.

So findet sich Maier im Jahr 1969 an der Seite des unerträglich stinkenden Onkels wieder, und folgt diesem durch seinen Tag. Der führt frühmorgens von der Uhlandstraße in Bad Nauheim mit der Bahn zur Arbeit auf die Frankfurter Hauptpost und abends zum Besuch ins Ober-Mörlener Forsthaus Winterstein. Dazwischen folgt Maier seinem Onkel auch zum „Treppensteigen“ ins Frankfurter Bahnhofsviertel, im nazibraunen VW Variant auf die Friedberger Kaiserstraße, um Besorgungen für die Familie zu erledigen und auch hinaus in die unberührte Natur, die Welt der Jäger und Waldbewohner. Was auf diesem Weg im Einzelnen geschieht, steht exemplarisch für das (Er-)Leben des Onkels, für seine Verweigerung gegenüber der Welt wie auch für sein An-den-Rand-gedrängt-sein. Dabei erleidet Maier all die Häme und all den Spott, die dem Onkel im Laufe eines einzigen Tages widerfahren, mit – und derer sind nicht gerade wenig. Dabei gibt er ihn nie der Lächerlichkeit preis, lässt aber auch nie das Mitleid überwiegen. Onkel J. bleibt über die gesamte Länge des Romans eine ekelhafte und furchterregende Person, die jenseits von Gut und Böse noch mit einem Bein im Paradies steht. Auch dienen die Erlebnisse des Onkels zu weitergehenden Reflexionen des Erzählers Maier über sein eigenes Leben. Hier zeigt sich denn auch die stilistische und inhaltliche Nähe zu den Kolumnen in „Onkel J.“.

Und scheinbar ganz nebenbei entfaltet sich auf Onkel J.‘s Weg ein Panorama der Wetterau im Jahr der Mondlandung: Kittelschürzen, King of Rock ‚n‘ Roll, ein kackbrauner VW Variant – das ist die Wetterau 1969, wie Maier sie imaginiert und erinnert wissen will. Dabei scheinen bekannte Themen aus seinem bisherigem Schaffen auf: die Friedberger Ortsumgehung, die Wetterauer Kneipenkultur, Maiers hassliebendes Verhältnis zur Heimat und das Gerede der Leute, um nur einige zu nennen. Zwar werden in der relativen Kürze von Das Zimmer manche Themen bloß angedeutet und bleibt vieles unausgesprochen. Doch spielt Maier diese Karte geschickt und steigert damit das Lesevergnügen. Und es lässt hoffen, dass Onkel J. auch in den kommenden Teilen von Maiers Romanprojekt Ortsumgehung wieder auftauchen wird.

Fest steht jedenfalls schon jetzt, dass Maier mit seinem jüngsten Werk seinen Ruf als Heimatdichter untermauern wird. Der Umstand, dass es Das Zimmer auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, ist jedenfalls Beweis genug dafür, dass gute Literatur nichts zwangsweise aus Berlin, Hildesheim, Leipzig und wie sie alle heißen kommen muss.

(von Lars Meuser)

Zum Autor
Andreas Maier wurde 1967 in Bad Nauheim geboren und lebt derzeit in Frankfurt am Main. Zu seinen Veröffentlichungen zählen unter anderem sein Debüt Wäldchestag (2000), Kirillow (2005) und Sanssouci (2009). Zudem verfasst er regelmäßig Kolumnen für die Literaturzeitschrift VOLLTEXT, die Anfang des Jahres unter dem Titel „Onkel J. Heimatkunde“ publiziert wurden. Im Herbst diesen Jahres erschien sein Roman Das Zimmer, für den er mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2010 ausgezeichnet wurde.


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