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Angelika Klüssendorf | Das Mädchen 

Roman
Kiepenheuer & Witsch 2011
192 Seiten
18.99 Euro
ISBN 978-3462042849

von Matthias Kremp | Download

Ein stark erzählter Roman über den Kreislauf aus Kampf und Scheitern eines heranwachsenden Mädchens in trostloser Lebenswelt

„Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig.“ Durch die Luft fliegende Exkremente? Haben wir es hier mit den Vorboten popliterarischer Ergüsse zu tun? Dünne Literatur, die mal wieder möchtegern-derbe auf die Pauke hauen will? Von wegen! Schon wenige Zeilen nach diesem fulminanten Auftakt von Angelika Klüssendorfs neuem Roman Das Mädchen zeichnet sich ab, aus welch einer zerrütteten Lebenswelt dieses Bild herrührt. Die zu Beginn des Romans 12-jährige Hauptfigur, stets nur „das Mädchen“ genannt, und ihr sechs Jahre alter Bruder Alex sind seit Tagen in ihrer Wohnung eingesperrt. Die alleinerziehende Mutter ist arbeiten, bei Mitropa. Da die Toiletten in den einfachen Mietshäusern ein halbes Stockwerk tiefer liegen, hat sich nun eine Menge Aussonderung im Eimer angesammelt. Mit einem gewissen Vergnügen lässt das Mädchen diese nun auf die Straße regnen, bevor es sich in Stöckelschuhen, BH und rotem Spitzenhöschen seiner Mutter am offenen Fenster mit ernstem Lächeln und seine jungen, knochigen Hüften drehend den pausierenden Fabrikarbeitern gegenüber präsentiert.

Spätestens seit dem Erscheinen ihres Erzählbandes Aus allen Himmeln (Fischer 2005) ist die kindliche Lebenswelt bei Klüssendorf als das absolute Gegenteil eines behüteten Schutzraumes Heranwachsender bekannt. Die von Alkoholismus, Gewalt, Misshandlung und Arbeitslosigkeit geprägte Welt der Erwachsenen dringt in die kindliche ein bzw. lässt diese erst gar nicht zu. In Das Mädchen besteht diese Welt aus dem besoffenen, unberechenbaren Vater des Mädchens, der immer mal wieder auftaucht, sich einnistet und die Mutter schlägt, aus der stets sturzbetrunkenen Mutter, die ihre sadistische Neigung an den beiden Kindern auslässt, aus dem Mädchen, das seine Wut an dem jüngeren Bruder abreagiert und später Zerstückelungsphantasien gegenüber dem realsozialistischen Personal des Heimes entwickelt, in dem sie nach mehrmaligem Ausreißen untergebracht wird, und aus dem blond gelockten Alex, der am liebsten nur noch durch seinen Schnorchel Luft holen würde, da ihn der direkte Kontakt zur Welt zu ersticken droht.

Die in der dritten Person erzählte Geschichte ist inhaltlich recht einfach gestrickt. Der Leser begleitet das Mädchen durch verschiedene Szenen und Stationen – Wohnung der Mutter, Neuanfang mit dem Vater, Versagen in der Schule, Leben auf der Straße, beim Ladendiebstahl, bei pubertären Spielereien und Unsicherheiten etc. –, bis zu seinem 18. Lebensjahr, in dem sie das Heim verlässt, eine Lehre als Melkerin bei der LPG („Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft“ in der DDR) antritt und diese letztlich wieder hinschmeißt. Die Stärke des Buchs liegt in erster Linie in der Art und Weise des Erzählens begründet. In trockenen und lakonischen Sätzen, die sich in einem unnachgiebigem Rhythmus durch den Roman ziehen. Szene an Szene reihend, schildert Klüssendorf in prägnanter, unpathetischer und nicht anklagender Weise ein soziales Milieu, das in der DDR offiziell nicht existierte. Zugleich fungiert die DDR nur als Schablone. Der ‚Fall‘ könnte ebenso gut heuer in der ‚Neuen Unterschicht‘ in den USA, in England, aber auch in Deutschland verortet werden. Mittels der eindringlichen, fast kommentarlosen Prosa wird die emotionale Kälte dieser Parallelwelt deutlicher als in statistisch überfrachteten Sozialstudien.

Doch just dieser Vorzug des Romans gereicht ihm an jenen Stellen zum Nachteil, an denen repetitiv die sadistische „Zerstreuung“ der Mutter beschrieben wird: „Alex muss mit ausgestreckten Armen in jeder Hand ein Kopfkissen halten, lässt er die Arme sinken, knallt die Mutter ihm den Ledergürtel zwischen die Beine“. Solche Szenen gibt es zuhauf. Sie besitzen in der Tat etwas „Voyeuristisches“ (Uwe Stolzmann; Dradio) und lassen eine auf Fassungslosigkeit und Schockiertheit angelegte Konstruktion durchscheinen. Ein etwas sparsamerer Umgang mit derartigen Bildern wäre wünschenswert gewesen. Auch hätte dem Roman das Einsetzen eines Fluchtpunktes gut getan. Denn so rattert die Geschichte in inneren und äußeren Tiraden auf ein recht abruptes Ende zu, das im Gegensatz zu der sonst gut durchgearbeiteten Form eher schwach wirkt.

Alles in allem hat Klüssendorf mit Das Mädchen aber einen stark erzählten Roman über die immer wieder versuchte Selbstbehauptung und den Kreislauf aus Kampf und Scheitern eines heranwachsenden Mädchens in trostloser Gesellschaft dargelegt, der sicherlich nicht zu Unrecht auf die Longlist des Deutschen Buchpreises 2011 gewählt wurde. Eine Sensation ist er allerdings nicht.

(von Matthias Kremp)

Die Autorin
Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute lebt sie in Berlin. Sie hat u.a. beim Fischer Verlag die Erzählungen Sehnsüchte und Anfall von Glück, den Roman Alle leben so, den Erzählungsband Aus allen Himmeln und den Erzählungsband Amateure veröffentlicht. Das Mädchen ist ihre erste Publikation bei KiWi.


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