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Peer Meter und Isabel Kreitz | Haarmann 

Graphic Novel
Carlsen 2010
192 Seiten
19.90 Euro
ISBN 978-3551791078

von Dennis Bellof | Download

Düstere Milieustudien, der Bombenwurf auf Hiroshima und natürlich die preisgekrönten Maus-Werke: Von Graphic Novels ist man mittlerweile auch tiefgreifenste, gewaltlastige Themen gewohnt. Nun also Fritz Haarmann. Der zu den Anfangszeiten der Weimarer Republik aktive Serienkiller wurde im Februar 1925 in seinem Heimatort Hannover hingerichtet. 27 Morde an Ausreißern, Puppenjungen (damals gängige Bezeichnung für männliche Prostituierte) und Wanderburschen konnten ihm die niedersächsischen Ermittler nachweisen. Der Polizeiapparat der Stadt an der Leine, an deren Grund und Ufern über 300 entdeckte Knochenstücke den Fall Haarmann ins Rollen brachten, war an den Geschehnissen jedoch nicht ganz unschuldig, hatte man dem als seltsamen Kleinkriminellen geltenden Psychopathen doch einen Spitzelausweis ausgestellt, mit dem er ungeniert nachts am Hauptbahnhof auf Opfersuche gehen konnte. Genug Grauen und makaberer Hintergrund also, um sich, wie es Peer Meter (Story) und Isabel Kreitz (Illustrierung) unlängst getan haben, mit den letzten Monaten vor Haarmanns Festnahme im November 1924 zu beschäftigen.

Hat man das Buch vor sich liegen, reizt es erst auf den zweiten Blick: Das graue, zunächst arg beliebig anmutende Hintergrundbild des Covers ist nämlich wohl gewählt. Es bietet im wahrsten Sinne des Wortes einen Einblick in das Armenviertel Hannovers mit all seinen Schatten und kleinen Auffälligkeiten. Der blutrote, spitz zulaufende Schriftzug Haarmann gibt dem Titelbild dazu etwas Gefährliches und durch die Perspektive Voyeuristisches.

Der Blick hinein in das auf dem internationalen Comicfestival in München als „Bester deutscher Comic“ ausgezeichnete Werk bietet sogleich ein wahres Schockerlebnis, eine der spektakulärsten Szenen der langen Jagd nach dem Kindermörder: In der trocken gelegten Leine finden die erschütterten Ermittler, beobachtet von zahlreichen sensationslüsternen Bürgern, Knochen um Knochen. Meter gibt hier bereits erste Hinweise auf die merkwürdige, unhöfliche und verschlossene Kommunikationspolitik der Ermittler. Und schon zu Beginn der bebilderten Geschichte fallen die liebevollen, genauen Zeichnungen von Isabell Kreitz auf, die beim nochmaligen Lesen immer wieder neue Details offenbaren. Auf fast jeder Seite.

Im Anschluss tragen Vögel den Leser originellerweise ein paar Straßen weiter in weniger idyllische Wohngegenden und machen mit Haarmann bekannt. Der Autor hat sich intensiv mit dem Täter beschäftigt. Dessen Sprechweise, Wortwahl und sonderbar kindliches Gehabe: Haarmann-Experten werden erfreut sein, dass Meter nicht eindimensional vorgeht und sich nicht etwa auf eine Dämonisierung oder völlige Entschuldigung des Serientäters beschränkt: Vielmehr ist die konkrete Deutung der Denk-und Handlungsmuster Haarmanns dem Rezipienten selbst überlassen. Dazu, wie als besonderes historisches Schmankerl, finden sich immer wieder verbürgte Original-Zitate.

Diese erzeugen allerdings eine Historizität, die in dem Maße nicht gewollt sein kann, wird doch auf dem Einband darauf verwiesen, dass man aus dramaturgischen Gründen (warum eigentlich? Ist der Fall nicht schon spannend genug?) die zeitliche Abfolge der Ermittlungen teilweise verändert habe. So entsteht trotz einiger Zusatzinformationen, die sich dem Comic anschließen, leider insgesamt ein unklares Bild von der Dimension und den wahren Problemfeldern des „Fall Haarmann“. Verwirrend und richtig unnachvollziehbar wird es dann, wenn im Buch immer wieder deutlich signalisiert wird, dass das Fleisch, das Haarmann auf dem Schwarzmarkt anbot, sicher und zudem ausschließlich von Menschen stammt. Dieses Gerücht versetzte die Menschen damals in große Panik, belegt wurde es jedoch nie. Wenn also einerseits sorgsam recherchierte Details aufbereitet werden, um einen Einblick in die Mentalität Haarmanns zu geben, der beispielsweise den Kopf des Opfers „aus Respekt“ beim Zerteilen mit einem Tuch abdeckte und die Leichen umarmte, wieso wird dann ein durchaus wichtiger, gleichwohl aber niemals verifizierter Aspekt des Falles absolut falsch dargestellt? Hier begibt sich Meter also unbeabsichtigt auf das gleiche Niveau wie das der tratschenden, aufgeregten Klatschweiber Hannovers 1926. Auch werden nachweislich hinterher aus Selbstschutz und Angeberei getätigte Prozessaussagen von Zeugen als „wahr“ in die Geschichte eingebaut ( „Das Fleisch schmeckt süßlich, meinem Mann wird schlecht davon“ ) die in anderem Zeitkontext und aus eindeutigen Beweggründen fielen.

Bei den bereits erwähnten, detaillierten Zeichnungen bleibt es während des ganzen Buches, auch wenn es hier und da Aussetzer gibt, die nahelegen, dass eventuell umgeschrieben wurde. So fallen mehrmals Personen durch völlig apathische Gesichtsausdrücke auf, während sie sich in einer lebhaften Unterhaltung befinden. Dies steht dann leider schwer im Kontrast zu sonst sehr klaren Emotionen der Protagonisten. Die Gesichter der Menschen sind – vielleicht wegen der „harten“ Zeit – recht kantig geraten, was nur bei Fritz Haarmann selbst hin und wieder stört, der eher weiche Gesichtszüge hatte und, sobald er im Buch laut wird, optisch eher Bruno Ganz in Der Untergang ähnelt als dem echten Haarmann. Vielleicht doch eine unterschwellige Form der Dämonisierung Haarmanns?

Sehr positiv ist dagegen wiederum, dass brutale Szenen oder unappetitliche Anblicke stets im Halbdunkel bleiben. Wer möchte, kann sich die Bilder ja weiterdenken, ansonsten ist durch die ungenaue Darstellung die Anrüchigkeit und (teils sprichwörtliche) Verdorbenheit der jeweiligen Situation hervorragend wiedergegeben.

Die graphic novel Haarmann ist, bei aller ausgeführten Kritik, ein spannendes und optisch höchst ansprechendes Buch, das klare Stimmungen erzeugt und zumeist erfolgreich versucht, zentrale Gesichtspunkte der Geschehnisse mit einzubringen, und sei es nur in wenigen Nebensätzen, wie zum Beispiel die sich überschlagende Presse. Jedoch ist der Umgang mit historischen Abfolgen oder Zusammenhängen teilweise sehr irreführend, und graphisch sind –bei aller sonstigen Liebe zum Detail – ebenso verwunderliche Ausrutscher zu finden. Das Ende des Buches kommt im Übrigen recht plötzlich, so dass man sich denken mag: Zwei bis drei Monate Ausbesserung und etwas mehr Bindung zwischen den Szenen, und Haarmann hätte das Zeug zum deutschen Comic des Jahrzehnts gehabt. Das Potenzial und das Talent waren auf jeden Fall gegeben.

(von Dennis Bellof)


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