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Daniel Schulz | Wir waren wie Brüder 

Hanser Berlin
288 Seiten
23 Euro

ISBN 978-3-446-27107-4

von Tessa Schäfer| Download

 

„»Bist du rechts?« Das ist nicht das, was ich fragen will, das ist aber das, was aus meinem Mund kommt. […] »Rechts!« Uwes Stimme hallt dumpf aus den Untiefen des Autos. »Ich bin normal.« Er kommt wieder hoch und hält eine Knarre in der Hand.“ (Schulz 2022: 246).

Wir waren wie Brüder ist der erste Roman des Journalisten Daniel Schulz. Der Roman erzählt die Geschichte eines Jungen, der zum Zeitpunkt der Wende zehn Jahre alt ist und in Markheide, einem ländlichen Dorf in Brandenburg nahe der Havel. aufwächst. In seiner Freizeit spielt er mit seinen Freunden Krieg.

Aufgeteilt ist der Roman in fünf Zeitabschnitte, von 1989 bis 2000, die episodenhaft erzählt werden und das Erwachsenwerden des Ich-Erzählers chronologisch untermalen.

Die erste große Veränderung für den Protagonisten bringt der Wechsel auf das Gymnasium mit sich. Er hat es zunächst schwer, Anschluss zu finden, da die meisten seiner Freunde auf die Realschule gegangen sind und er sich dem neuen Ort und teils bereits etablierten Freundesgruppen anpassen muss.

Schnell und oft wird zwischen den Zeilen klar, dass die beschriebene Umgebung der Verlierer der Wiedervereinigung ist. Gartenflächen dürfen nicht mehr genutzt werden, da sie verkauft wurden, Menschen verlieren ihre Jobs, müssen umschulen und werden nicht selten depressiv, Westware verdrängt Ostprodukte – die Liste wäre leicht fortzuführen. Der Roman macht deutlich, dass Rechtsextremismus im dort gezeichneten Milieu zur Normalität gehört. So gut wie niemand hinterfragt die rassistischen Witze, die Gewalt und die Sprache. Kaum sichtbare Leuchttürme im dichten Nebel, wie die westdeutsche Lehrerin, die nach der Wende in den Osten kam und antisemitische Witze meldet, sind kleine Lichtblicke, die aber weder bei jung noch bei alt etwas Nachhaltiges bewirken können. Zu festgefahren sind die Strukturen und Gewohnheiten in allen Fasern des täglichen Lebens.

Den Titel Wir waren wie Brüder trug auch schon ein Essay, den Schulz als Reaktion auf die gewalttätigen und rassistischen Ausschreitungen in Chemnitz verfasste. Der Text war für den deutschen Reporterpreis 2019 nominiert. Titelgebend für Roman und Essay ist ein Lied der Band Böhse Onkelz, die, wie der Autor schreibt, den Soundtrack für junge Nazis in den 90ern lieferte und die auch im Roman immer wieder Erwähnung finden – auf langen Autofahrten, Partys und sogar auf Beerdigungen.

Dem Ich-Erzähler sind Nazis eigentlich zuwider – schon als Kind war seine größte Angst, dass durch die Wende die Faschisten aus dem Westen in sein Leben kommen würden. Auch bei rassistischen Witzen steigt er nicht mit ein und Prügelorgien gehen ihm gänzlich gegen den Strich – vielleicht, weil er durch seine Mutter eng mit der Kirche verbunden ist? Dennoch bleibt er seine ganze Jugend hindurch mit eindeutig rechten Jugendlichen befreundet und auch wenn er sich mit zunehmendem Alter äußerlich versucht abzugrenzen, beispielsweise durch längere Haare, bleibt er ihnen dennoch bis zum Abitur treu. Auch sein Liebesleben gibt ihm dieser Hinsicht nur wenig Halt, da es, wie bei vielen Jugendlichen, sehr unstet und von ständigem Auf und Ab geprägt ist und seine große Liebe Mariam, die vor nichts Angst hat und bei der sich der Protagonist eigentlich stets wohl fühlt, die kleinbürgerlichen Strukturen der Heimat längst überwunden hat und sich immer mehr nach Berlin orientiert.

Wir waren wie Brüder ist kein autobiografischer Roman. Die Orte und Figuren sind fiktiv, aber neben sehr guter Recherchearbeit fließen sicherlich auch einige persönliche Erfahrungen des Autors in den Text mit ein. Dass Schulz 1979 in Potsdam geboren und die ersten Jahre seines Lebens die letzten der DDR waren und er den Umbruch nach der Wende vor Ort in einem brandenburgischen Dorf selbst erlebt hat, verleiht dem Roman in Sprache, Stil und Beschreibungen eine unglaubliche Authentizität. Der Roman schildert die Coming of Age-Geschichte des namenlosen Ich-Erzählers inmitten der brandenburgischen Baseballschlägerjahren, dessen Sprache und Umgebung exakt in die Realität übertragen werden könnten. Der Roman liefert keine Universalantwort auf die Frage, warum rechtsextreme Strukturen im Osten ausgeprägter zu finden sind als im Westen, zeichnet aber ein sehr realistisches Bild einer Normalität, die diesen Strukturen nicht entgegenwirkt(e).

                                                                                                  Tessa Schäfer


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