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Julian Barnes | Die einzige Geschichte 

Kiepenheuer & Witsch 2019
304 Seiten
22 Euro

ISBN 978-3-462-05154-4

von Inga Movsisyan | Download

Nach Der Lärm der Zeit kam nun auch Die einzige Geschichte in die Regale der Buchhandlungen. Das jüngste Werk des britischen Schriftstellers Julian Barnes feiert große Erfolge, weil jene Geschichte von der Liebe handelt – der Liebe und ihrem Verschulden.

 

Bereits ab der ersten Seite wird der Leser in die Erzählung mit eingebunden, denn Paul, gerade einmal 19 Jahre alt, spricht ihn direkt an und lässt ihn an seiner Gedankenwelt offen teilhaben.

Das Konzept der Liebe wird aufgegriffen und die Figur stellt sich und dem Leser Fragen, die er zu beantworten versucht. Die Überlegungen über die Liebe, die Paul anstellt, sind keine wegweisenden Gedanken: Man liest sie mit einem leichten, verständnisvollen Lächeln und ruft sich die Tatsache ins Gedächtnis, dass man selbst auch einmal an dem Punkt war – vollkommen eingenommen von der ersten Person, die einem die Liebe begreiflicher macht. Pauls Erfahrungen mit Susan, alle Situationen und Geschehnisse, denen sie begegnen, führen dazu, dass er die Essenz der Liebe auf seine eigene Art und Weise definieren kann.

So sehr der Roman von der Liebe handelt, handelt er auch vom Erwachsenwerden. An Paul wird erkennbar, dass sich das Bild der Liebe mit dem Alter verändert, dass das Verständnis für Liebe reift und dass man mit dem Alter anders liebt.
Paul befindet sich in einer Welt dominiert von Erwachsenen, sei es im Elternhaus oder im Tennis- Club. Obwohl ihn fast ausschließlich Erwachsene umgeben, fällt auf, dass der einzige, der sich in manchen Situationen erwachsen verhält, er selbst ist. In anderen Situationen wirkt er wiederum sehr verloren. Sein Leben wendet sich, als er im Tennis-Club, in dem er im Sommer spielt, Susan kennenlernt – eine viel ältere Frau.
In diesem Moment mag man sich an Charles Webbs Die Reifeprüfung erinnern, und man kann damit in einigen Punkten auch richtig liegen, jedoch ist Die einzige Geschichte bei Weitem nicht so befremdlich und obszön. Julian Barnes‘ Werk ist subtiler, cleverer und obwohl sich auch Paul einigen Reifeprüfungen stellen muss, ist es doch nicht jene verruchte Liebesbeziehung, deren Zeuge man in Webbs Werk wird.
Nach dem Kennenlernen und einigen gemeinsamen Tennisspielen entsteht zwischen Paul und Susan eine Beziehung, deren Entwicklung der Leser in der Rolle einer vertrauten Person von Paul verfolgt.

Während man als Leser im Buch blättert, lässt einen der Gedanke nicht los, dass das Motiv, welches Paul in diese Beziehung stürzen lässt, jenes der puren Rebellion sein könnte. Eine Rebellion, die gegen das immerwährende „Du bist erst 19“ kämpft, dessen Echo oft in Pauls Gedanken hallt. Es ist der Wunsch und das Verlangen danach, als Erwachsener angesehen zu werden. Seine Eltern, die wichtigsten Erwachsenen in seiner Umgebung, tun dies nicht, weshalb sich Paul auf Susan einlässt. Denn sie schaut ihn nicht von oben herab an und begegnet ihm auf Augenhöhe. So ist es nicht verwunderlich, dass Paul eine gewisse Zuflucht bei Susan sucht, denn wie er selbst sagt, ist sie die einzige, die ihn nicht am Erwachsenwerden hindert. Somit ist Paul zu Beginn ihrer Beziehung euphorisch und sich seiner Entscheidung, eine solche Beziehung einzugehen, sicher.

Diese anfängliche Euphorie ändert sich nach dem Ausbruch des Paares. Die Flucht entgegen aller sozialen Konventionen und das jahrelange Zusammenleben bringen große Veränderungen mit sich, denn in der Zeit wird Paul wirklich erwachsen und versteht vieles, was ihm früher nicht zugänglich war. Die Liebe zeigt hier ihr Verschulden. Seine Sicht ändert sich, er findet keine Erfüllung mehr in der Beziehung, die einige Jahre zuvor alles war, was er jemals zu wollen glaubte. Diese Situation erinnert an den Film An Education, dessen Drehbuch von Nick Hornby stammt, einem ebenfalls einflussreichen Autor – und ebenfalls Brite. In An Education wünscht sich die junge Jenny nichts mehr, als in Oxford zu studieren. Als jedoch der ältere, erfahrenere und reifere David in ihr Leben tritt, sind vor allem die glamourösen Partys, das Paris der 1960er Jahre, Konzerte und Opern das Epizentrum ihrer Wünsche. Er zeigt ihr eine Welt, die ihr bislang nicht offenstand. Sie kürzt den Weg, den ihr Leben für sie noch bereitgehalten hat, ab und nimmt die Abkürzung zu dem, was hätte nach Oxford kommen sollen – nach ihrer eigenen Reife und nach ihrem eigenen Erwachsenwerden.

Der Lärm der Zeit, Barnes‘ Roman aus dem Jahr 2016, und Die einzige Geschichte unterscheiden sich in ihrem Ton, bleiben jedoch der subtilen Fähigkeit, tief in die Charaktere einzutauchen, und Handlungen in einer einnehmenden und ergreifenden Manier darzustellen, ganz ohne Nebensächlichem viel Raum zu geben, treu.

In Der Lärm der Zeit spielen die Themen Feigheit und Mut eine große Rolle. Auch in Die einzige Geschichte sind sie vertreten: Paul zeigt sich als eine mutige, manchmal aber auch als feige Figur. Letzteres ist dem Mangel an Erfahrung zuzuschreiben. Nichtsdestotrotz lässt er sich auf eine Beziehung ein, die sich sowohl für ihn als auch für Susan als sehr gefährlich herausstellt. Angesichts der Umstände meistert er die Forderungen, mit denen jene Partnerschaft verbunden ist. Jedes Ereignis formt den jungen Paul, stärkt ihn und lässt ihn daran wachsen. Und doch ist er gegen Ende erleichtert darüber, durch schicksalhafte Ereignisse aus diesem Lebensabschnitt befreit zu werden.

Allem zum Trotz ist die Beziehung zu Susan für Paul jene Geschichte, die es wert ist, erzählt zu werden; die einzige Geschichte, die zählt.                                                               

(Inga Movsisyan)


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