Im Schrank. Die tschechische Autorin Tereza Semotamová liest im Rahmen der Giennale aus ihrem Debütroman 

Donnerstag, 27.6., 19:30 Uhr

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Georg-Philipp-Gail-Str. 5
35394 Gießen

Gästebuch | GA | GAZ

Eintritt: 5 € | 3 € erm. | LZG-Mitglieder frei

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Für LZG-Mitglieder über das LZG-Büro

Moderation: Marco Rasch (LZG | Giennale)

Nachdem Tschechien als Gastland auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse vertreten war, kam am gestrigen Abend ein Stück tschechischer Literatur auch nach Gießen. Tereza Semotamová, 1983 geboren, ist als Autorin und Übersetzerin tätig und stellte im Rahmen der Giennale ihren Debütroman Im Schrank vor.

Es sei schwierig, so die Autorin, das Buch, die Heldin Hana und sich selbst voneinander zu differenzieren und klare Trennlinien zu ziehen. Dafür sei das Werk zu autobiographisch. Zusammengefasst könne man sagen, dass sich das Buch mit einem Traumhaus befasst, und dies in einer Phase, die keinem Traum – und wenn, dann einem Alptraum – gleicht. Hana findet für sich keinen anderen Raum als den Schrank, in dem sie leben kann, nachdem sie aus Deutschland nach Prag zieht. Die Ausweglosigkeit und Hilflosigkeit manifestieren sich in dieser radikalen Entscheidung der Protagonistin. Jedoch warnt Semotamová, wohlwissend, dass einige der vielen Anwesenden genau dies denken könnten: »Die Idee soll nicht eskapistisch klingen«.

Vor dem Beginn der Lesung deutet die Übersetzerin und Drehbuchautorin darauf hin, dass jenes Buch nicht als eine Anleitung darüber, wie man in einem Schrank lebt, aufgefasst werden solle, »eher zeigt es die Schattenseiten eines Traumhauses«.
Die Zuhörer begegnen Hana an einem Tag, an dem sie bereits im Schrank, der in einem Prager Hinterhof steht, lebt. Sie fragt sich, wie sie diesen Tag überleben soll und ist beschämt über die Tatsache, keine Toilette zu besitzen. Aus diesem Grund zieht sie sich an, macht ihr Bett und verlässt ihr »Nest«, um kurz darauf über den Hof zu flitzen, in den Keller zu gelangen und das Kellerfenster als Ausgang auf die Straße zu nutzen. Unentdeckt möchte sie bleiben auf ihrem Weg zum Späti, dessen Besitzer vietnamesischer Abstammung ist und Hana gerne bei ihrem Problem behilflich ist.

Cut. Das nächste Kapitel wird gelesen. Die ehemalige Germanistik-Studentin, die fünf Jahre lang in Deutschland gelebt hat, ist stolz darauf, sich in diesem Kapitel etwas ausgedacht zu haben und sich nicht nur auf Autobiographisches beschränken zu müssen. Novak, ein Freund, der ihr dabei behilflich war, den Kleiderschrank in den Hof zu tragen, jedoch ahnungslos darüber ist, dass sie diesen nun bewohnt, wird von Hana als »unbehauste Seele« beschrieben, ganz wie sie selbst eine sei. Er lädt sie ein, mit ihm zum Haus seines verstorbenen Großvaters zu fahren, der Tauben züchtete und dessen Unternehmen Novak jetzt übernommen hat. Auf der Fahrt redet Novak, erzählt ihr viel und doch herrscht Stille, denn Hana ist diejenige, die nichts erzählt, ihn aber beauftragt, sie etwas zu fragen, wenn er etwas wissen möchte. Kontrastiert wird die harmonische, von idyllischer Landschaft umgebene Fahrt, von der Metal-Musik, die im Hintergrund läuft und den Wahlplakaten der rechtspopulistischen Partei Tschechiens an denen sie vorbeifahren. Nichtsdestotrotz fühlt sich Hana »pudelwohl, denn sie macht einen Ausflug und ist nicht allein«. Am Grundstück angekommen stellt Novak ihr die Tauben vor, sie spürt die »pulsierenden Körper, das flatternde Herz«. Um die Tauben zu lehren, von einem Ort zurück zum Haus zu fliegen, werden sie in einen Transporter verfrachtet und immer ein Stückchen weiter weg gefahren, als das Mal davor: »Im Unterschied zu Frauen kommen sie meistens zurück«, sagt Novak. Entgegen seiner Erwartungen hinsichtlich des Spektakels vom Wiederkehren der Tauben bleibt Hana unbeeindruckt. Mit passenden Worten neigt sich das Kapitel dem Ende zu: »Alles verändert sich, nur die Veränderung bleibt«.

Auf die Frage, wie sie sich mit ihrer Protagonistin identifiziert, antwortet die Tschechin, dass ihr Leben auch ganz lange »im metaphorischen Schrank« stattgefunden hat. Das Schreiben, setzt sie fort, sei ihr Weg raus gewesen. Sie gibt zu, dass Menschen, die sie persönlich kennen, das Buch sicher ganz anders lesen, als diejenigen, die sie nicht kennen: »Die Synopsis ist aber auch irreführend. Es impliziert etwas Magisches und Mysteriöses«.

Hinsichtlich der Beziehung zwischen Novak und Hana nimmt sie Bezug auf den Ausdruck der »unbehausten Seelen«. Das würde es gut zusammenfassen. Novak ist Hanas Ruhepol, sie fühlt sich wohl in seiner Anwesenheit, hat Augen für die Umwelt und ist frei von den Gedanken, die sie sonst quälen.

Auch die Tauben spielen eine besondere Rolle: Genau wie Menschen vergessen Tauben, wo sie hingehören, bis etwas passiert, das sie wieder an ihr Zuhause erinnert.

Die Autorin gewährt außerdem einen kurzen Einblick in die Übersetzung des Debütromans, die nicht ganz reibungslos ablief. Mit der Übersetzerin Martina Lisa (man solle sich nicht selbst übersetzen, »das wäre so, wie sich selber zu küssen«) haderte sie daran, passende Ausdrücke zu finden. Sie waren sich aber schnell einig darüber, dass es tatsächlich keine bessere Option als die bereits gewählten gibt. So verging ein Wochenende in einer Datscha in Leipzig.

Die Veranstaltung endet mit einer Zukunftsprognose: Es wird ein neues Buch geben, welches ebenfalls die Thematik des Raumes behandeln wird. Zu guter Letzt trägt Semotamová eine Seite ihres Romans auf Tschechisch vor. Somit schließt diese Melodie eine Lesung, die den Raum mit Gedanken über die eigenen Fluchtorte, (Aus-)Wege, und Traumhäuser füllte.

(Inga Movsisyan)


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