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Sasha Marianna Salzmann | Im Menschen muss alles herrlich sein 

Suhrkamp Verlag 2021
384 Seiten
24 Euro

ISBN 978-3-518-43010-1

von Sandra Binnert| Download

 

Eine Giraffe, die eigentlich keine ist. Ein zu kurzer Hals, graues Fell mit schwarzen Tupfen; Beine, die eher an ein Pferd oder einen Hirsch erinnern. Der georgische Maler Niko Pirosmani hat in seinem Leben keine Giraffe gesehen und wollte sie doch malen, eben so, wie er sie sich vorstellt. Das Bild wird zu einer Ikone der Tierdarstellungen[1]. „Edi geriet ins Stocken, dann sah sie Pirosmanis Giraffe […] vor sich, dieses merkwürdige zusammenhanglose Tier – entstanden aus dem Gedanken, gar nicht erst zu versuchen, die Welt so zu sehen, wie sie war. Weil es gar nicht die Möglichkeit dazu gab“ (S.312).

Edi ist eine der vier Hauptfiguren in Salzmanns neuem Roman Im Menschen muss alles herrlich sein. Nina, die Ich-Erzählerin, und Edi sind beide in ihren Zwanzigern, sie kennen sich, seit sie Kleinkinder sind, und haben bis auf die Migrationsgeschichte ihrer Eltern wenig gemeinsam. Ihre Mütter Tatjana und Lena haben beide ihre Kindheit und ihr junges Erwachsenenleben in der Sowjetunion verbracht, bis diese immer weiter auseinanderbrach und beide ihre Wege nach Deutschland gefunden haben.

Nachdem in Lenas Kindheit ihre Mutter eine Hirnerkrankung bekommt, wird Lenas Wunsch immer größer, Neurologin zu werden und anders zu handeln als die korrupte Ärztin, die ihrer Mutter zwar viel Geld, aber nicht ihr Leiden genommen hat. Doch auch dieser Weg ist nur durch Korruption und Hilfe von Bekannten ihrer Eltern möglich.

Lena wird letztlich doch noch Ärztin und nimmt von ihren Privatpatient*innen auch gerne Geschenke an. Sie verliebt sich in einen Patienten, bekommt ein Kind von ihm und nennt es Edita, aber ihre kulturellen Differenzen lassen sich in der Sowjetunion nicht überbrücken. Schließlich heiratet sie Daniel und hat durch ihn die Möglichkeit, nach Deutschland als Kontingentflüchtling auszuwandern.

Tatjana flieht spektakulär vor Schüssen in dem Restaurant, in dem sie arbeitet, die Gäste haben sich wohl nicht so gut verstanden. Ihr Traum, Schneiderin zu werden, platzt, sie zieht mit ihren Eltern in eine träge Kleinstadt und arbeitet dort in einem Spirituosengeschäft. Dort trifft sie auf Michael, der sie vor einer Durchsuchung der Mafia schützt. Michael wird von ihren Eltern als Schwiegersohn akzeptiert, bevor Tatjana ihn überhaupt mag, und als sie schwanger wird, nimmt er sie mit nach Deutschland, wo er sie einfach fallen lässt und verlässt. Hier treffen Lena und Tatjana aufeinander und werden Freundinnen.

Alle vier sollen auf Lenas fünfzigstem Geburtstag aufeinandertreffen, doch das Fest wird von den gestörten Mutter-Tochter-Beziehungen überschattet. Die Töchter, die auf der Basis von Internetrecherchen die Geschichte ihrer Familien nachzuvollziehen versuchen, schaffen es nicht, eine Kommunikationsebene mit ihren Müttern aufzubauen. Die Mütter kommen mit den Lebenswelten ihrer Töchter nicht klar und so endet jeder Kommunikationsversuch in einem Streit. Salzmann schafft es gekonnt, diese Diskrepanz darzustellen und aus verschiedenen Perspektiven die Einwanderungs- und Integrationserfahrung darzustellen. „Sie [Edi] wusste nicht, wie sie Tatjana erklären sollte, dass ihre Empfindung zu allem um sie herum bis jetzt genau so gewesen war, wie dieses Bild: Sie hörte von Dingen, von Ereignissen, hörte mal dieses, mal jenes, und setzte sie, irgendwelchen Mutmaßungen folgend, zusammen“ (S.312f.). So wird Pirosmanis Giraffe zu einem Leitmotiv der für die Protagonistinnen unüberwindbaren Kommunikationsbarriere. Zu viel ist passiert, zu vieles kann nicht erklärt werden.

Salzmanns Roman zeigt, wie unterschiedlich die Lebenswelten innerhalb einer Familie sein können. Sie veranschaulicht anhand von zwei Generationen die Auswirkungen, die ein Staatssystem, eine Gesellschaft und Migration auf die Entwicklung und die Bedürfnisse von Menschen haben und wie sich daraus eine Kommunikationsbarriere aufbauen kann. Feinfühlig und präzise wird nicht nur das Suchen nach einem gemeinsamen Nenner, nach einem Verständnis füreinander geschildert. Durch die vielschichtigen Charaktere wird auch gezeigt, welche individuellen Schwierigkeiten mit dieser Suche verbunden sind.

 

[1] Vgl. hierzu https://www.albertina.at/site/assets/files/4321/pressemappe_niko_pirosmani.pdf (letzter Abruf: 21.12.2021)

                                                                                               Sandra Binnert 


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