Hier beginnt der Wald. Saskia Hennig von Lange liest aus ihrem neuesten Roman 

Saskia Henning von Lange © Stefan FreundSaskia Henning von Lange © Stefan Freund

Dienstag, 2.4., 19 Uhr

KiZ (Kongresshalle)
Südanlage 3a
35390 Gießen

Gästebuch | GAZ | GA

Eintritt: 5 € | erm. 3 € | LZG-Mitglieder frei

Moderation: Nicolaus Webler (LZG)

Im KiZ und von zahlreich erschienenen Hörer*innen wurde Saskia Hennig von Lange mit ihrem neuen Roman Hier beginnt der Wald willkommen geheißen. Die Autorin ist bereits zum dritten Mal beim LZG zu Gast und erfrischt das Publikum mit einem offenen Interview und einer mitreißenden Vorlesemanier: die fast schon szenische Vortragsweise ermöglicht den Zuhörern und Zuhörerinnen ein mitfühlendes Einfinden in die Geschichte, welche vom ersten Leseabschnitt fesselte.  Mit dem Moderator Nicolaus Webler (LZG) sprach die junge Autorin über das Waldmotiv, welches man als Sehnsucht nach der Natur auch in Zurück zum Feuer und Alles, was draußen ist wiederfindet. Im neuesten Roman findet der Protagonist zum Wald und so auch zu sich selbst, denn dort, wo der Wald beginnt, beginnt eine Befreiung und ein gewisses Loslassen, nach dem sich der Namenlose gesehnt hat. Die Flucht findet mit Hilfe eines Lastwagens statt, und eben in jenem scheinen alle Gedanken zu fließen, einer jagt den nächsten und es wirkt so, als wäre der Protagonist in ihnen gefangen. Es entsteht eine Sphäre all seines Hab und Guts, materialistischer, aber auch geistiger Form. Die Autorin zieht hier selbst eine Referenz zu ihren beiden vorherigen Romanen, in denen das Museum (Alles, was draußen ist) und das Schmeling-Haus (Zurück zum Feuer) eben diese Sphäre bilden.

Auf die Frage, wieso es ein männlicher Protagonist sei, antwortet die Autorin offen, dass die meisten Werke, die sich in ihrem Bücherschrank befinden, von männlichen Autoren geschrieben wurden. Von diesen wurde sie stark beeinflusst, weshalb wir als Leser*innen einem männlichen Charakter begegnen.

Als Einstieg begann die Autorin mit dem Vortrag des ersten Kapitels, in dem die Erinnerung des Protagonisten an das Autofahren geschildert wird: wie seine Mutter vor ihm saß, wie die Landschaften an ihm vorbeizogen. Im Gegensatz dazu befindet er sich nun selbst am Steuer, die Idylle wird aufgebrochen und der Leser wird mit den gegenwärtigen Gedanken des Protagonisten konfrontiert: Es sind Erinnerungen an ein »Du«, ein ‒ wie die Zuhörer*innen lernen ‒ Erinnern an seine Frau, von der er weg möchte, die er aber auch zu vermissen scheint. Man erfährt von einem Kind, von dem die Rede gewesen sein muss zwischen dem Ehepaar, denn der Mann steht dem nicht positiv gegenüber, denn er möchte nichts, was ihn an sich selbst erinnert. In ihm steigt das Verlangen auf, einfach nur weit weg zu sein. Aufgewühlt und völlig außer sich begegnet der Namenlose nach einem Sturz während einer Pause einem Mann, der ihm lediglich helfen will. Es wirkt, als wäre er vollkommen in Gedanken verloren, von der Realität entrissen. Regen und Kälte - mysteriöserweise fing es genau in dem Moment auch in Gießen an zu regnen - untermalen die Umstände, in denen der Protagonist verloren ist.

Die Gedanken erweisen sich als eine Methode der Problemverarbeitung ‒ gleichzeitig bringen sie Probleme, so auch den Unfall, der kurz danach passiert. Im ersten Moment scheint er wie gelähmt, als würde jede Situation an ihm vorbeirasen. Die Autorin erklärt im anschließenden Gespräch, dass der Roman in der Ich-Perspektive verfasst war, dies jedoch nicht den nötigen Abstand zwischen Protagonist und Leser*innen schaffen würde, den es vor allem in der Unfallszene braucht. Hennig von Lange spricht offen und persönlich über ihren Schreibprozess, dem sie auch das wiederholte „denkt er“ in ihrem Roman verdankt. Es ist ein Charakter, der sich im Denken wiederfindet. Sie erinnert sich an eine Frage einer Leserin: Wieso fühlt der Charakter nicht? Das Publikum blickt neugierig zur Autorin, die antwortet: »Das ist meinem Schreibprozess geschuldet. Man schreibt und schreibt und irgendwann schreibt es sich nun mal von selbst.«                                                               

Sie betont auch, dass diese Flucht vor Problemen kindisch sei, denn der Protagonist möchte weder Vater sein, noch Sohn, er möchte für sich stehen und »kein Teil einer Kette sein«. Es ist offensichtlich, dass es der Autorin schwer fällt, über den von ihr geschaffenen Protagonisten zu sprechen, als wäre er ein solider und tatsächlich existierender Charakter ‒ für sie sei es nur ein Entwurf. Nichtsdestotrotz gelingt es ihr, die Persönlichkeit und die Denkmuster des Mannes plausibel zu beschreiben, sowohl in dieser Lesung, als auch ‒ und hauptsächlich ‒ im Roman. Sie lehnt es aber ab, ihn als einen »Egozentriker« zu beschreiben, dies sei ihr ein zu starker Begriff. Stattdessen ist es so, dass der geschaffene Mann sich nicht im Erwachsensein versteht: Er ist kindisch und möchte selbst über seine Existenz bestimmen. Passend dazu las sie die Stelle in dem Roman, in der der Mann nackt in der Umkleidekabine steht und sich wohler fühlt als zuvor. Es sei eine ganz normale Situation, scherzt die Autorin. Eine zweite Stelle wird vorgelesen, ebenso effektreich und szenisch wie die bisherigen: Die, in der sich der Mann aus den Sachen im Lastwagen Kleidung raussucht und sich in Pullover, Skihose und Gummistiefeln überaus wohl fühlt ‒ weil es selbstbestimmt ist, erklärt die Autorin. Er sucht nach sich selbst und findet auf ebendiese Weise ein Stück dessen. 

Die Lesung endet mit dem Gedanken des Mannes, dass es nun zu Ende ist, und dem war auch so bei der Lesung. Schade eigentlich, denn man hat sich zu schnell an das Vorlesen gewöhnt und hat sich gerne, wenn auch schweren Gemüts, mit auf die Findungsreise eines Mannes begeben, welcher flüchtet und sich verliert, um sich daraufhin selbst wiederzufinden.

(Inga Movsisyan)


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