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Jan Brandt | Gegen die Welt 

Roman
DuMont 2011
927 Seiten
22.99 Euro
ISBN: 978-3-8321-9628-8

von Johannes Rotter | Download

Ostfriesland – was gibt es da schon für den Normalbürger, jenseits von Karl Dall, Otto und Urlaubserinnerungen aus der alten BRD? In Jan Brandts Debütroman Gegen die Welt ist es nicht weniger als eine komplette Welt für sich, gegen die der Protagonist Daniel Kuper und einige Freunde in den 1980er und frühen 1990er Jahre aufbegehren können. Und daneben Intrigen und Ehebrüche wie in "Dallas", der Lieblingsserie von Daniels Mutter.

Der Roman entfaltet sich in mehreren Ebenen. Oberflächlich sind es Provinzerinnerungen, wie sie viele aufweisen können: Aufgewachsen auf dem Land zwischen Langeweile, Heavy Metal und Schützenfest, täglichen Fahrten zum Gymnasium in der Stadt, Rumschrauben an Mofas, bis irgendwann die Entscheidung kommt: dableiben oder abhauen?

Die zweite Ebene macht die multiperspektivische Schilderung des Geschehens aus. Wer erzählt überhaupt, kann man als Leser sicher sein, dass wahr ist, was erzählt wird? Letztlich muss man es, was anderes bleibt einem ja nicht übrig. So kommt es, dass der Protagonist über 100 Seiten nicht einmal auftritt, den Abschluss und eine gewisse Auflösung bilden die Erinnerungen eines Freundes von Daniel, Volker Mengs.

Damit aufs engste verbunden ist die dritte Ebene, ein Science Fiction-Plot: Daniel Kuper soll im Grundschulalter Kontakt mit Außerirdischen gehabt haben. Klingt vor allem auch deswegen logisch, weil sein Leben danach aus den Fugen gerät und er beginnt, sich mehr oder weniger bewusst „Gegen die Welt“ zu stemmen. Für die Bewohner Jerichos, dem Schauplatz des Romans, liegt darin jedenfalls der Grund für die ganze Misere um Daniel, der einfach nicht in ihren Mikrokosmos passen will, dem man nun als Sündenbock alles anlasten kann, das ganze Spektrum zwischen Drogen verticken und Hakenkreuzschmierereien im sonst so beschaulichen Städtchen. Mit zu diesem Plot gehört auch ein geheimnisvoller Briefeschreiber, der im Umfeld der Sonnenfinsternis im August 1999 wundersame Dinge in Jericho ankündigt, und der Selbstmord von Stefan Reichert, mit dem Daniel eine Zeit lang in der Band "Kill Mister" spielt. Er bringt sich während eines bio-physikalischen Experiments um, bei dem er sein vorhandenes Potenzial zu optimieren versucht. Stefan hat der vermeintliche letzte Ausweg, die Flucht in die Großstadt – nun ja, immerhin Münster – nichts gebracht.

Die vierte Ebene schließlich ist die Entwicklung des Ortes und erträumte Idylle des Landlebens überhaupt. Aus der Ferne betrachtet ist bekanntlich alles schön; der Dorfkern mit Kirche und kleinem, vor allem selbständigem Einzelhandel, der die Stütze der Gesellschaft bildet. Diese Welt bricht im Laufe des Romans auseinander, es beginnt mit einem Neubauviertel und findet seinen Abschluss im Ende der dörflichen Infrastruktur: „Die reformierte Kirche thront noch immer über allem, aber das Glockengeläut konkurriert inzwischen mit dem Krachen und Scheppern des Betonwerks. Von den Gulfhöfen steht kein einziger mehr. Das Friesenhuus – abgerissen, Schulz? Schmiede – abgerissen, die Molkerei – abgerissen, Schuh Schröder, Polsterei Tinnemeyer, Fahrrad Oltmanns – abgerissen, abgerissen, abgerissen.“ Der Fortschritt kam, der Fortschritt wird verdammt. So entsteht sie, die Nostalgie, die doch immer nur ein Sehnen nach der eigenen Vergangenheit ist.

Das kurze Zitat verdeutlicht auch die Schreibweise von Jan Brandt in „Gegen die Welt“. Auf 927 Seiten kann er sich Zeit zum Beschreiben, Erzählen und Ausschweifen nehmen – und die nimmt er sich auch. Man taucht dadurch in eine minutiös geschilderte Welt ein: eine inhabergeführte Drogerie der 1970er Jahre, Jericho im Regen, Wahlkampf in der Provinz und viele andere Skizzen mehr. Langweilig wird das nie, langatmig nur selten, dazu passen Beschreibung und Inhalt zu gut zusammen. Aufgelockert wird das ganze durch grafische Spielereien, so dass man auch mit Blick auf die Seitenzahl gut vorankommt.

Aufmerksam zu machen ist noch auf die Website www.gegendiewelt.de, die mit einem Personenregister, Ortskarte und allerlei verschrobenen Hinweisen zum Verweilen und Rätseln einlädt. Wer es dann ganz genau wissen möchte, kann die eingestreuten Bibelzitate und -bezüge ausfindig machen und die Gelegenheit dazu nutzen, seine Uwe Johnson-Sammlung herauszukramen. Der Bauunternehmer Rosing eröffnet nach der Wende im ostdeutschen Jerichow eine Filiale, das soll einmal als Hinweis reichen. Aber bitteschön doch erst nach dem Lesen von Gegen die Welt.

Und dann ist es doch wieder wie in der "echten" Welt: Was bringt die Wut, wenn das coole Mädchen von der Antifa am Ende doch mit dem ehemaligen Pausenhoftyrann zusammenkommt?

Zum Autor:
Jan Brandt wurde 1974 in Leer (Ostfriesland) geboren. Er studierte Geschichte und Literaturwissenschaft in Köln, London und Berlin sowie an der Deutschen Journalistenschule in München. Seine Erzählungen sind in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Süddeutschen Zeitung erschienen. Gegen die Welt ist sein erster Roman.


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