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Marie T. Martin | Luftpost 

Erzählungen

Poetenladen 2011
144 Seiten
17.80 Euro
ISBN 978-3940691200

von Jennifer Sprodowsky | Download

Sie sind jung und unglücklich. (Meistens.) Sie führen Dialoge, die nicht gehört werden. (Des öfteren). Sie kämpfen mit ihrer Vergangenheit, die sich in die Gegenwart schleicht. (Größtenteils.) Sie hören Stimmen und sehen den Schatten von Niemandem. (Gelegentlich.) Sie erinnern sich und sprechen nicht. (Mehrheitlich.) Sie leben Leben, in denen sie keine Identifikation finden. (Fast immer, wenn nicht sogar immer.)

Die Figuren aus Marie T. Martins Erzählband geben uns einen ehrlichen Einblick in ihr Selbst. Fünfzehn Geschichten sind es, die die junge Autorin uns vorlegt. Fünfzehn Geschichten, die durch ihre Kürze den Eindruck erwecken könnten, sie ließen sich mal eben so zwischen Dusche und Frühstück oder U-Bahn-Station A und B weglesen. Schon nach der Lektüre der ersten Erzählung muss diese Vorstellung jedoch gründlich revidiert werden. Luftpost heißt diese erste Geschichte und ist demnach Titelgeber des Erzählbandes. Eine Ich-Erzählerin befindet sich in einer Therapie-Sitzung und schweift gedanklich immer wieder in ihre Vergangenheit, in ihre Kindheit, in der sie zu ihrem imaginären Freund Roderik spricht. Rührend, könnte man meinen, und verstärkt wird dies noch durch die Tatsache, dass die Erzählerin nicht diejenige ist, die eine Therapie in Anspruch nimmt. Nein, sie ist diejenige, die versucht, mit ihrer Patientin ein Gespräch zu führen, jedoch keine Antworten bekommt. Gespiegelte Psychologie – und zwischen den Zeilen sprechen Angst, Einsamkeit und der Drang nach Sublimierung.

Es sind tiefgreifende Themen, mit denen die Debütantin ihre Kurzgeschichtensammlung eröffnet, tiefsitzende Probleme, die sich auch in den weiteren Erzählungen immer wieder auffinden lassen. So wird bspw. ebenfalls die Protagonistin aus Lichtnetz in ihrem Alltag mit psychisch erkrankten Menschen konfrontiert. Auch in dieser Geschichte ist die Erzählerin eigentlich diejenige, die subtil nach Hilfe schreit, weil sie ihren eigenen betäubten Tod träumt, weil sie keinen Halt findet, weil sie den Wahn nachempfinden kann und weil sie einsam ist.

Die lähmende Einsamkeit ist programmatisch für Marie T. Martins Erzählband. Immer wieder trifft der Leser/die Leserin auf Figuren, die in ihrem eigenen Leben nicht am Leben sind, die in Gedanken voranschreiten, ohne diese auch in die Tat umzusetzen. Nebenrolle, der Titel der achten Erzählung, zeigt dieses Dasein vieler Protagonisten: Die Ich-Erzählerin lebt im Schatten ihrer erfolgreichen Schwester. Eine schwere Last trägt sie auf ihren Schultern: zu viel Arbeit, keine Zeit, keine Ruhe. Doch das, was hauptsächlich eine Rolle spielt, ist die Schwester, und vor allem aus deren Ablehnung resultiert die Psyche der Erzählerin. In Drei Teller und Wind, den einzig personal erzählten Geschichten, stagnieren die Figuren in real unerfüllten und nur in Träumen realisierten Lieben. In Wind wird die Liebe zwar ansatzweise subtil und geheim verwirklicht, doch findet sich gerade in dieser Geheimhaltung das Festsitzen im gewohnten Fremden wieder. Die Erzählung Er käme realisiert das Leben, das nur in der Vorstellung existiert, wie keine andere auch sprachlich. Allein gelassen ist auch diese Protagonistin. Sie wartet darauf, dass ihr Geliebter sie doch endlich einmal besuchen KÄME. Es ist ein Leben im Konjunktiv, das sie führt, und eine Liebe aus der Abwesenheit heraus, die sie nährt.

Marie T. Martins Erzählen ist experimentierfreudig. Sei es, dass gleich zwei Ich-Erzähler parallel in einer Geschichte auftreten wie in Fallschirm, sei es, dass mit den Geschlechtszuschreibungen, die der Leser/die Leserin versucht, den Erzählern aufzulegen, gespielt wird: Es ist ein Lesen, das Verwirrung stiftet. Es ist ein Lesen, das der Wiederholung bedarf, um aus dem Dunkeln zu treten, ein Lesen, das anregt, über den Tellerrand zu blicken.

An dieser Stelle ist man wohl an den Punkten angekommen, die der ‚jungen deutschen Literatur‘ derzeit immer wieder vorgeworfen werden: das Fehlen einer stringenten Handlung, das Erzählen um des Erzählens Willen, das zwanghafte Vorzeigen von stilistischen Raffinessen. Und vor allem in Kurzgeschichtenbänden ‚junger Autoren‘: das Sammelsurium an Erzählungen, gefunden in Schreibtischschubladen und Worddokumentablagen.

Und vielleicht mögen Martins Sätze manchmal auch nur wie lange Assoziationsketten wirken. Eindruck reiht sich an Eindruck, Metapher an Metapher. Es passiert wenig bei diesen jungen empfindlichen Protagonisten. Dies ist jedoch keine mangelnde Fähigkeit an Plotkonstruktion, sondern vielmehr die poetische Innensicht von Charakteren, die den Gurt auf den Warteplätzen für ein erfüllendes Leben zu fest zugezogen haben. Es ist „(e)in Gewirr aus Stimmen, und sie widersprechen sich oft, die eine reißt das ein, was die andere aufgebaut hat.“ Das macht das Buch zu „ein(em) gelbe(n) Sack voller Erinnerungen“, der beim Lesen aufgeschlitzt wird und Wörter freisetzt. Diese zu ordnen, kann man sich zum Ziel setzen. Man kann es aber auch sein lassen und die Wörter zu Bildern werden lassen, die sich fern von Raum und Zeit befinden, aber dafür ästhetisch und ergreifend sind.

Im Zusammenspiel der einzelnen Geschichten kann sich dann sogar eine Antwort auftun: „Ich lächle, ich glaube, es gibt nur eine Farbe vielleicht, die immer auftaucht, Schicht um Schicht ist alles übereinandergelegt in uns wie eine Lasur, es gibt keinen wahren Grund, denn alle Schichten leuchten zusammen, es gibt nur viele Stimmen und keine eigene.“
(Immer?)

Zur Autorin:
Marie T. Martin wurde 1982 in Freiburg geboren. Sie ist ausgebildete Theaterpädagogin und studierte am Leipziger Literaturinstitut. 2007 gewann sie den Förderpreis des MDR-Literaturwettbewerbs und 2008 erhielt sie das Rolf-Dieter-Brinkmann-Stipendium. Der Kurzgeschichtenband Luftpost ist ihr Erzähldebüt.

(von Jennifer Sprodowsky)


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