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Boris Groys | Zum Kunstwerk werden 

Alexander Verlag
224 Seiten
28 Euro
ISBN 978-3-89581-624-6

von Lothar Schneider

Ganz im Gegensatz zu angelsächsischen und frankofonen Ländern sind philosophische Essays in Deutschland wenig beliebt – zum einen, weil man Angst davor hat, sich unseriös subjektiven Gedankengängen überlassen zu müssen, zum anderen, weil man die Erfahrung gemacht hat, doch nur einer abgespeckten Variante staubtrockenen Dozierens aufzusitzen. Beide Befürchtungen sind hier unbegründet. Im Gegenteil:  Man folgt einem spannenden, bisweilen überraschenden, zum Ende hin beunruhigenden Gedankengang.

Groys, der 1994-2005 als Professor für Kunstwissenschaft, Philosophie und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe lehrte und seitdem an der Faculty of Arts and Science der New York University, New York, lehrt, zählt seit seinem aufsehenerregenden Buch Gesamtkunstwerk Stalin (1988), das die Kunst des sozialistischen Realismus als Verlängerung der Tradition der russischen Avantgarden deutete, zu den wichtigen Theoretikern und Analytikern der Gegenwartskultur. Zum Kunstwerk werden nun schlägt einen weiten Bogen durch die kulturellen Bestände, Bilder und Motive, um schließlich zu einer Diagnose der Gegenwart zu gelangen.

Der Beginn scheint trivial: Narziss, so meinen wir zu wissen, ist seit den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts die Leitfigur moderner Identitätskonstitution und Narzissmus längst zum wohlfeilen psychologischen Vorwurf verkommen. Aber Groys liest den Mythos anders: Wenn Narziss sich in sein Spiegelbild verliebt, ist es nicht unmittelbar er selbst, auf den er sich bezieht, sondern sein Bild – also etwas, das von seinen Wünschen und Ängsten getrennt und potentiell von allen anderen (die zugegen sind) gesehen werden kann. Leitmotivisch wird Groys diese Trennung zwischen dem individuellen Körper, der nur erfahren, aber nicht gesehen werden kann, und dem tendenziell kollektiven Selbst-Bild verfolgen, ihre Facetten aufweisen und ihre Folgen thematisieren. Dabei kommt er von der Lehre der Selbstentäußerung Gottes (Kenosis), der in Christus eine Gestalt annahm, die Menschen verstehen und begreifen konnten, über die Ästhetik des Selbstdesigns in den Avantgarden der frühen Moderne, die wie für die Objekte auch für die Menschen ornamentlose Oberfläche und reine Funktionalität forderten, bis hin zur Ästhetisierung der Politik und zur Selbstästhetisierung des persönlichen Selbstbildes im Internet immer wieder auf die Bedingungen und Konsequenzen der Trennung des öffentlich präsentierten Bildes von seinem lebendigen Bildgeber vor – oder hinter? - dem Bildschirm zu sprechen.  Die beunruhigende Konsequenz: Waren die vergangenen Jahrhunderte bestrebt, Dinge zu produzieren, die dann im Gebrauch verschleißen und sterben konnten, ist die moderne Kultur, wie sie sich seit der französischen Revolution in Museen ankündigte und in der energiefressenden Infrastruktur des Internets heute universell geworden ist, darauf aus, Dinge und Menschen zumindest medial präsent zu halten – im Transhumanismus sogar bis über den natürlichen Tod ihrer Körper hinaus. An die Stelle einer Produktions- ist damit eine Betreuungsökonomie getreten: Der Versuch, sein Bild und, sobald man sich mit diesem Bild oder das Bild mit sich identifiziert, sich selbst unsterblich zu machen. (Man denke an die Diskussionen um die Corona-Quarantäne und die Polemiken zwischen Boomern und Snowflakes.)

Den zum Verschenken schön gestalteten Band ergänzt das Essay durch ein langes Gespräch zwischen Groys und dem kürzlich verstorbenen Dramaturgen Carl Hegemann, das die Themen noch einmal aufgreift und am Modell des Schauspielers illustriert, der zugleich sich selbst sein und (s)eine Rolle spielen muss.


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